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Willkommen bei Krasse Links No 24. Stachelt Eure Weirdness durch den Algo, heute zertrommeln wir die Schwerlosigkeit der Macht.


Die Financial Times berichtet, dass die Techbranche alleine dieses Jahr über hundert Milliarden Dollar in KI-Infrastruktur investiert.

Microsoft, Alphabet, Amazon and Meta all revealed massive increases in spending in the first six months of 2024 — totalling $106bn — in their latest quarterly earnings reports, as their leaders brushed off stock market jitters to pledge further investment hikes over the next 18 months.


Und das ist erst der Anfang.

Analysts at Dell’Oro Group now expect as much as $1tn could be channelled into infrastructure such as data centres within five years, even though the companies have so far failed to convince investors that their customers are prepared to spend big on AI products and services.

Edward Zitron, der schlecht gelaunte Silicon Valley Insider, nahm die Nachricht, dass OpenAI auf dem Weg ist, dieses Jahr 5 Milliarden Dollar Miese zu machen, zum Anlass einen seiner ellenlangen Blogposts (mit ehrlich gesagt extrem viel Redundanz) zu schreiben und dem Unternehmen den Untergang vorherzusagen. Er gibt OpenAI höchstens ein bis zwei Jahre, bevor es unter der einen oder anderen unerfüllbaren Erwartung zerbricht. Um dem zu entgehen, muss OpenAI mindestens ein paar dieser Dinge schaffen:

  • OpenAI’s only real options are to reduce costs or the price of its offerings. It has not succeeded in reducing costs so far, and reducing prices would only increase costs..
  • To progress to the next models of GPT, OpenAI’s core product, the company would have to find new functionality
  • OpenAI is inherently limited by GPT’s transformer-based architecture, which does not actually automate things, and as a result may only be able to do „more“ and „faster,“ which does not significantly change the product, at least not in such a way that would make it as valuable as it needs to be.
  • OpenAI’s only other option is to invent an entirely new kind of technology, and be able to productize and monetize said technology, something that the company has not yet been able to do.


Zitron und andere trommeln seit Monaten diesen Beat, ich ja auch seit einiger Zeit, und seit Wallstreet und Massenmedien eingestiegen sind, ist er eigentlich kaum mehr überhörbar und wird durch immer mehr Indizien gedeckt, und ja, die Tech-Werte wackeln schon, aber das oben erwähnte 100 Milliardenloch wird trotzdem weitergeschaufelt?

Meine Vermutung: Man kann dem „Markt“ gerade beim Denken zuschauen. Und weil er Informationen ganz zufällig so langsam verarbeitet, wie ein sich enorm überschätzt habender Tech-Oligarch, der getrieben von der allzumenschlichen „Sunk Cost“-Fallacy immer noch auf ein Wunder hofft, braucht er halt ein bisschen?


Max Read stellt die sehr berechtigte Frage: „Why is Bitcoin even a campaign issue in 2024?“ und seine Betrachtungen sind lesenswert. Denn tatsächlich sollten sich auch die Cryptokritiker eingestehen, dass die These, die erhöhten Leitzinsen würden Crypto den Gar ausmachen, nicht aufgegangen ist. Irgendwie haben es die Crypto-Bros geschafft, Bitcoin in die Welt der Schwerkraft zu transferieren, auch wenn die Stimmung nun eine ganz andere ist, als zu „Web3“-Zeiten:

The residual, streamlined, post-FTX, post-web3 crypto culture is interesting. It’s mostly divested itself of the pretense of non-speculative utility that served as a cover for the web3 bubble; you don’t really hear many start-ups pitching blockchain solutions anymore. What’s left is a core group of ideologically and financially committed young men, a mix of hustlers and marks (almost everyone in this scene is both at once), who buy deeply into crypto’s promise of financial independence, if not always the full anarcho-capitalist program that spawned the tech.


Bitcoin ist jetzt jetzt zwar kein Tool mehr, um irgendein Problem zu lösen, aber ein „anerkanntes“ spekulatives Anlageobjekt und hat damit eine zweite Gruppe von Trommlern akquiriert, die in ihren Beat einstimmen:

This base is joined in the current crypto coalition by a collection of somewhat more pragmatic, often institutional investors–think Larry Fink of the immense investment management firm BlackRock–who have less of an ideological commitment and simply like crypto (and especially Bitcoin) as a speculative “non-correlated” asset.


Es ist vielleicht ein historischer Zufall, dass just in dem Moment, in dem das ganze Crypto-Scheme zusammenbrach, die SEC die Freigabe von Bitcoin-ETFs bekanntgab. Die Riesenpauken von Jericho Wallstreet machen eine Menge her. Für Wallstreet ist Bitcoin zwar nur ein „uncorrelated asset“, dass sie zum „Hedgen“ (also zum Risikoausgleich) von strukturierten Portfolios verwenden können. Sie geben nicht mal mehr vor, dass ein Bezug zur materiellen Realität in ihren Modellen eine Rolle spielt. „Number Go UP“ plus ein bisschen Zahlenwoodoo reicht vollkommen.

Crypto ist angetreten den Finanzmarkt zu ersetzen, und hat ihn stattdessen als zynische Clownveranstaltung enttarnt. Das wäre alles furchtbar lustig, aber leider bestimmen diese Clowns unsere materielle Realität und lenken die Ressourcenströme, die unsere Zukunft bauen.


Threads hat die 200 Millionen Usermarke durchbrochen und das ist ein guter Take:

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Zumindest, wenn man das irreführende Wort „Monopol“ mit „hoher Netzerwerkzentralität“ tauscht und dazu versteht, dass das kein Ausrutscher ist, sondern dass Kapitalismus immer so funktioniert.

Mir wurde übrigens auch klar, warum Threads so schlecht darin ist, trotz dieser User-Zahlen öffentliche Relevanz zu erzeugen. Der Threads-Algorithmus arbeitet dezidiert a-rhytmisch und zerlegt jeden Beat in zusammenhangslose Soundfetzen.


Alle reden davon, dass die Kamala Harris-Kamapagne das Wort „weird“ als effektive Waffe gegen Trump/Vance entdeckt hat und alle lieben es. Die Argumentation geht so, dass Trump und Vance sich kaum gegen den Vorwurf wehren können, schließlich ist er so vage, dass man ihn nicht widerlegen kann und die Beteuerung, man wäre gar nicht „weird“ klingt wie eine Bestätigung der These.

Ich will das Manöver auch gar nicht auf taktischer Ebene kritisieren. Es sieht so aus, als würde der Ausdruck tatsächlich gut auf Trump und Vance im aktuellen, kulturell-politischen Moment passen und könnte einen mehrheitsfähigen Beat gegen den Faschismus anstimmen.

Ich will aber auf strategische Untiefen hindeuten, in die man sich mit der Rede von der „weirdness“ begibt. Denn „weird“ bleibt eine Ausgrenzungsgeste des Andersartigen und passt damit grundsätzlich auf alle (noch) nicht-etablierten Semantiken. Mit „weird“ wird kein Problem beschrieben, sondern eine Abweichung konstatiert und diszipliniert und deswegen fällt es mir schwer, dabei einzustimmen.

Let’s face it: ich bin weird. Dieser Newsletter hier ist weird. Ihr alle seid „weird“ weil ihr das hier lest.

Im Gegenzug schreibe ich den Newsletter nur deswegen, weil mir die Welt „weird“ geworden ist. Ich habe die Ungleichzeitigkeit zwischen materieller Realität und etablierten Erzählungen nicht mehr zusammenbekommen und meine weirdness ist nur die Spiegelung dieser Entfremdung.

Und auch wenn ihr der festen Meinung seid, dass ich hier eh nur quatsch erzähle und es kein Verlust wäre, wenn Leute wie ich einfach ausgegrenzt werden: die Gesellschaft braucht weirdness, um aus angestammten Semantiken auszubrechen und sich weiter zu entwickeln.


Das Schöne an dem Bild mit dem Beat ist ja, dass es auch die Öffentlichkeitsstruktur der AGI-Debatte gut erklärt. Da haben wir zum einen die Leute, die vor den existentiellen Gefahren vor AGI warnen (Longtermists) und dann gibt es die Leute, die meinen, man muss AGI mit allem was geht und gegen alle Bedenken durchdrücken (e/acc), aber wenn man ein bisschen in die Debatte reinhört, dann merkt man schnell: es ist derselbe Beat, nur phasenverschoben.

In diese Psydodebatte hat sich nun auch Vatlik Buterin eingeschaltet und ich kann nicht anders, als seinen Text zu empfehlen. Meine persönliche Theorie zu Buterin ist, dass er eigentlich zu intelligent und mitfühlend ist, um mit den Cryptobros rumzuhängen, aber irgendwie ist er in diese Strukturen materiell und semantisch zu sehr verstrickt, als dass er daraus ausbrechen kann und man merkt seinem Text an, wie sehr er sich müht, von diesem toxischen Startpunkt aus einen einen Weg in die Vernunft zu finden und dabei scheitert.

Der Text ist aber vor allem deswegen lesenswert, weil Buterin so intellektuell aufrichtig ist, nicht nur die apokalyptischen AGI-Szenarien auszumalen, sondern auch mal deren „utopische“ Gegenerzählung auszubuchstabieren:

It seems very hard to have a „friendly“ superintelligent-AI-dominated world where humans are anything other than pets.


Ich glaube ja nicht an AGI, aber wenn selbst die Tech-Bros mit nichts besserem kommen können, als einer Zukunft, in der wir all unsere materielle Handlungsmacht verlieren und als endgültig atomisierte und entkörperlichte „Individuen“ den Hitzetod der Gesellschaft im Metaverse feiern, zusammen mit unseren KI-Freund*innen, deren Haustiere wir eigentlich sind, dann liegt die Frage auf der Hand:

Kann ich das Extinction-Szenario noch mal sehen?


Lewis Waller hat in seinem empfehlenswerten Channel „then & now“ eine sehr überzeugende Historie und Kritik der Massenmedien und damit der medialen Öffentlichkeit vorgelegt.

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Wie Euch vielleicht aufgefallen ist, ist es fast unmöglich, heute eine Fundamentalkritik der Medien auszusprechen, die weder in die Falle tappt, der rechten Semantik des Elitenbashings auf den Leim zu gehen, noch den weit schlimmeren Fehler begeht und die Elitenverbundenheit der Massenmedien leugnet.

Waller aber schafft das, indem er sich die Zeit nimmt, die Geschichte der Massenmedien von der Druckerpresse bis Jordan Peterson zu erzählen ohne dabei den Blick auf die politische Ökonomie der Branche zu verlieren.

Dabei kommt er zu dem sehr nachvollziehbaren Schluss, dass, ja, die Mainstreammedien Elitenmedien und Biased as Shit sind (aber eben anders als die rechten erzählen), aber die rechten „alternativen“ Medien eben auch Elitenmedien und noch viel biaseter as Shit sind. Ihr Trommeln dient nur einem Eliten-internen Machtkampf.


Andreas Knie, der Leiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität hat einen Gastbeitrag in der Frankfurther Rundschau über den Zustand der Bahn geschrieben und greift darin vor allem die Idee der Trennung von „Netz und Betrieb“ an. Im Gegensatz zu Straße und Auto, so Knie, müsse man Schiene und Bahn als operationale Einheit verstehen.

Die Eisenbahn dagegen funktioniert nur als integriertes System unter einer Leitung. Züge und Schienen sind ein geschlossenes, aufeinander abgestimmtes Gebäude: Trasse und Traktion ist eine Produktionseinheit.


Das Chaos bei der Bahn ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie die eisenharte Durchsetzung der Ideologie des Marktes funktionierende Systeme an den Rand des Zusammenbruchs bringen kann.

Betrachten wir das ganze einmal mit der Brille der Ökonomie der Abhängigkeiten: Auf die Bahn sind viele Menschen angewiesen aber auf unterschiedliche Weise. Der eine pendelt beruflich zwischen München und Berlin, die andere besucht jeden Sonntag ihren Bruder in der Nachbarstadt und alle sind irgendwie ein bisschen davon abhängig, mehr oder weniger spontan an jeden Ort in Deutschland kommen zu können. Die Bahn hat damit eine enorm hohe Netzwerkzentralität im gesellschaftlichen Gesamtgefüge.

Der „Markt“ ist in dieser Theorie nur der Umstand, dass es mehre unabhängige Infrastrukturen zur Befriedigung einer bestimmten Abhängigkeit gibt, was die relative Netzwerkzentralität der Anbieter reduziert. Das ist nicht nichts und kann zu einer gewissen Preis- und Produktdisziplin führen, aber die Frage ist: trifft das auf den Bahn-Wettbewerb überhaupt zu?

Mehrere Bahnunternehmen, die auf einem „neutralen“ Netz operieren schaffen in den wenigsten Fällen alternative Verbindungen mit alternativen Preisen. Meist ist es so, dass Strecken aufgeteilt werden: Strecken in die ein kleinerer Anbieter reingeht, wird für die Bahn unwirtschaftlich und wird geschlossen, bzw. Ressorceninputs dahin werden reduziert.

Doch Abhängigkeiten sind immer relational zwischen zwei Akteuren und die Strecke München – Berlin subsituiert nun mal nicht die Regionalbahn in die Nachbarstadt und umgekehrt und so kommt es, dass durch den angeblichen „Wettbewerb“ gar keine Netzwerkzentralität reduziert, sondern nur umgeschichtet wird. Die Preise geben dann höchstens kurzfristig nach, aber sobald jedes Bahnunternehmen seine jeweiligen Strecken monopolisiert hat, muss Rendite erwirtschaftet werden. Gleichzeitig muss aber für den Betrieb der Bahn immer mehr organisatorische Apparate einbezogen werden, die das Gesamtsystem instabiler werden lassen.

Der Wettbewerb hat gigantische Zentrifugalkräfte entstehen lassen, die keiner mehr überblickt, die vermeintlichen Wettbewerbsvorteile sind nur zulasten der unteren Beschäftigtengruppen erreicht worden, während Overhead und beteiligte Anwaltskanzleien gut verdient haben. Es gibt komischerweise auch nur einen Fachkräftemangel bei Busfahrerinnen und Busfahrern, nicht bei Zweckverbänden. Innovationen kommen in diesem Wettbewerbsverfahren auch nicht vor, da nur die Kosten betrachtet werden und die Angebote für Jahrzehnte nicht verändert werden können, sonst drohen Klagen der Unterlegenen.


Knie schlägt Radikalmaßnahmen vor:

Es muss sofort notoperiert werden. Alles, was nicht zum Eisenbahngeschäft gehört, wird verkauft, die Länder geben den SPNV wieder zurück an eine neu gegründete „Deutsche Eisenbahn Gesellschaft“, die vom Eisenbahnbundesamt kontrolliert und überwacht wird. Hier können dann die Länder ihre Interessen einbringen, diese werden aber alleine einer bundesweiten Systemlogik unterstellt.

Der Chefkomentator der Financial Times, Martin Wolf, appelliert an die Milliardäre, Trump nicht zu unterstützen und sein Hauptargument besteht darin, sie darauf hinzuweisen, dass ihr Reichtum von eben jenem System abhängt, das sie durch ihre Trumpunterstützung angreifen.

The plutocrats who support Trump may remain safer than Berezovsky. But can they really be as free as they want? Yes, a further erosion of democracy might protect them from interference by the elected politicians they detest. But the men they put in power, in their stead, have a tendency to turn themselves into absolute rulers. Nobody can then be truly safe.


Der Verweis auf „Berezovsky“ bezieht sich auf eine Anekdote, die Wolf am Anfang erzählt.

In 1999, the late Boris Berezovsky had lunch with the editor and senior journalists of the FT. I had already met him in Moscow on several occasions. Berezovsky had just played a role in persuading those close to Boris Yeltsin to appoint Vladimir Putin, then head of the FSB, Russia’s security service (whom Berezovsky had known when Putin was deputy mayor of St Petersburg), to be prime minister and his successor as president. “Why”, I asked, “did you trust a former KGB agent with power?” I have long remembered his reply: “Russia”, he said, was “now a capitalist country. In capitalist countries, capitalists hold power.”

My jaw metaphorically dropped. Berezovsky was an intelligent, ruthless and cynical man, who had lived much of his life in the Soviet Union. He was also a Russian, who knew Russia’s brutal history. Yet he appeared to believe Marxist claptrap about where power would lie in supposedly “capitalist” Russia. Of course, he was wrong. Power lay in the hands of the man in the Kremlin, where it always had. Perhaps I am too harsh on him. Western leaders seem to think that sanctions on Russian oligarchs might influence Putin. I have no idea why.


Was Berezovsky damals noch nicht verstand und was Wolf bis heute nicht zu verstehen scheint, ist, dass es in Putins Russland keinen Unterschied zwischen Politik und Wirtschaft gibt. Das Oligarchensystem funktioniert kurzgesagt so, dass Du wirtschaftlich nicht gegen den Willen Putin existieren kannst, aber in der Politik mitreden darfst, wenn Du dem Chef „Gefallen“ tust.

Damit wird aber nur ungeniert vorgetragen, was auch im Westen hinter dem Vorhang passiert. Der ganze Witz an Donald Trump ist doch, dass er sich seinen Oligarchenstyle in den Jahrzehnten des unbehelligtem Betrügen und Belügen als „Geschäftsmann“ angewöhnt hat. Ab einer bestimmten wirtschaftlichen Macht sind Gesetze nur noch teuer verstellbare Hindernisse und Politik ein lästiges Ritual.

Der größte Trick, den der Teufel je gepulled hat, war uns weis zu machen, dass Ökonomie etwas von der Politik abgrenzbares ist. Das war die entscheidende, ideologische Pfadentscheidung, die im Neoliberalismus und von dort in der heutigen Oligarchie gipfelt. Die „Ökonomie“ dient als Wissensobjekt nicht der Erkenntnis, sondern der Verschleierung. Sie ist der ideologische Vorhang, der uns die Sicht auf essentielle Eigenschaften der Wirtschaft verwehrt:

  • Dass alles, was in der Privatwirtschaft passiert, von der materiellen, rechtlichen und semantischen Infrastruktur des Staates abhängig ist. Ohne Staat kein Eigentum, keine Sicherheit von Vermögen, keine Transportinfrastruktur, etc.
  • Dass all diese materiellen, semantischen und rechtlichen Infrastrukturen grundsätzlich änderbar sind.
  • Es fällt aus dem Blick, dass der Staat auch der stärkste wirtschaftlicher Akteur ist, der, sobald er Abhängigkeiten durch öffentliche Infrastrukturen bedient, das ganze Marktgeschehen komplett umstrukturieren kann.
  • Am deutlichsten grenzt dieser Blickwinkel den riesigen Anteil an Wertschöpfung aus, der in Form von Carearbeit in den Haushalten die Gesellschaft reproduziert.
  • Umgekehrt macht diese Trennung unsichtbar, dass Infrastrukturen politisch sind. Es ist nicht egal, wie ein Unternehmen geführt wird, wie die Infrastrukturen beschaffen sind und wie sie unsere Gesellschaft reproduzieren.
  • Und die Trennung macht unsichtbar, dass unsere Zukunft als Gesellschaft und als Menschheit von Projekten der Oligarchen gestaltet wird. Und habt ihr diesen Leuten in letzter Zeit mal zugehört?

Im Guardian hat George Monbiot einen Kommentar über den Vorschlag Brasiliens geschrieben, eine weltweite 2% Milliardärs-Vermögenssteuer einzuführen.

Radical? Not at all. According to calculations by Oxfam, the wealth of billionaires has been growing so fast in recent years that maintaining it at a constant level would have required an annual tax of 12.8%. Trillions, in other words: enough to address global problems long written off as intractable.


Monbiot hat viele Zahlen zusammengetragen, die, wenn man sie auf sich wirken lässt, ein Gefühl der einsetzenden Ohnmacht aufkommen lassen.

In the two years following the start of the pandemic, the world’s richest 1% captured 63% of economic growth. The collective fortune of billionaires rose by $2.7bn a day, while some of the world’s poorest became poorer still. Between 2020 and 2023, the five richest men on Earth doubled their wealth.


Und er macht klar, dass das alles direkt auf unsere Kosten geht:

Billionaire wealth impoverishes us all: astonishingly, each of them produces, on average, a million times more carbon dioxide than the average global citizen in the bottom 90%. Billionaires are a blight on the planet.


Ich sag jetzt mal etwas „weirdes“:

Wir müssen der Macht der Milliardäre eine Grenze setzen, bevor es zu spät ist!

Was meine ich mit zu spät? Auf dem Weg vom demokratischen Kapitalismus zum Neofeudalismus gibt es einen „Point of no Return“. Es ist der Punkt, an dem die Netzwerkzentralität der Milliardäre so unangreifbar geworden ist, dass wir ihre Macht mit demokratischen Institutionen nicht mehr eingrenzen könnten, selbst wenn wir wollten. Und dieser Punkt ist viel, viel früher, als der, an dem wir alle merken, dass wir nicht mehr frei sind.

„I think we are all either vaguely or painfully aware that, regardless of changes of government, our needs will be met only if they coincide with the demands of capital. If they run directly counter to those demands, however great and consistent our wishes might be, they scarcely stand a chance.“


Meine Vermutung: Der Zeitpunkt ist jetzt. Die Machtakkumulation beschleunigt sich immer weiter und führt bei einigen (Musk, Thiel, Ackman, Sachs, Mercer, ect) bereits zu einem erwachenden „Klassenbewusstsein“.

Wer die Serie „The Boys“ verfolgt, sieht diesen Prozess präzise im Charakter des Homelander verkörpert, den der eingeübte Blick von Oben in jene Schwerelosigkeit befördert, in der Menschen nur noch lästige zu managende Hindernisse sind. Es geht schon lange nicht mehr um Geld, sondern um die Aussicht auf unantastbare Macht.

Attac und Occupy Wallstreet sind ne Weile her und die Linke scheint unfähig, sich noch auf irgendwas zu einigen. Doch hier wäre doch die Gelegenheit, einmal mit einem breiten Bündnis, möglichst auch international vernetzt, die große Trommel zu rühren.

So here’s the test the G20 governments face: 3,000 versus 8 billion. Do their loyalties lie with 0.00004% of the world’s population, or with the rest? If your government seeks to block the Brazilian proposal, you will have your answer.


Wenn wir es schaffen würden, Hunderttausende auf die auf die Straße zu bringen, nur für diese Forderung und dadurch die bereits vorhandene, deutliche Mehrheit für eine Vermögenssteuer in einen unleugbaren Wunsch des Wahlvolkes verwandelten, dann könnte man den G20 Gipfel im November als Test verstehen: Leben wir noch in einer Demokratie, oder ist der Zug schon abgefahren?

mspr0.de/krasse-links-no-24/


Willkommen bei Krasse Links No. 22. Ich bin quasi noch in der Sommerpause, deswegen entschuldigt die Unregelmäßigkeit. Doch jetzt entsichert Euer Interregnum, wir projizieren das Ende des Westens auf die Blockchain.

Biden ist raus und hat Kamala Harris endorsed. Das bedeutet, dass die Demokraten wieder eine Chance haben zu gewinnen und eine mindestens ebenso große, sich auf Jahrzehnte komplett zu zerlegen. Es wird spannend.


Die Wired hat einen beunruhigenden Artikel über den durch generative KI erhöhten Energiebedarf der Techbranche. Fast alle Tech-Riesen müssen ihre Klimaziele revidieren.

The technology’s energy needs for training and deployment are no longer generative AI’s dirty little secret, as expert after expert last year predicted surges in energy demand at data centers where companies work on AI applications. Almost as if on cue, Google recently stopped considering itself to be carbon neutral, and Microsoft may trample its sustainability goals underfoot in the ongoing race to build the biggest, bestest AI tools.

Bei der bekannten Venture Capitalistbude Sequoia bekommt man Zweifel an der Wirtschaftlichkeit des AI-Hypes.

In September 2023, I published AI’s $200B Question. The goal of the piece was to ask the question: “Where is all the revenue?”
At that time, I noticed a big gap between the revenue expectations implied by the AI infrastructure build-out, and actual revenue growth in the AI ecosystem, which is also a proxy for end-user value. I described this as a “$125B hole that needs to be filled for each year of CapEx at today’s levels.”
This week, Nvidia completed its ascent to become the most valuable company in the world. In the weeks leading up to this, I’ve received numerous requests for the updated math behind my analysis. Has AI’s $200B question been solved, or exacerbated?
If you run this analysis again today, here are the results you get: AI’s $200B question is now AI’s $600B question.

Es ist passiert. Der Griff nach der Macht durch die Silicon Valley Tech-Faschisten materialisierte sich letzte Woche im Viezepräsidentschafts-Ticket von J.D. Vance. Die New York Times hat zusammengetragen, wie es dazu kam:

Mr. Vance “was very much a friend of the Thiel network going back years,” said Crystal McKellar, a venture capitalist who worked with Mr. Vance at Mithril Capital. “It seemed like Peter saw something really special in him and wanted to encourage it.”

Mr. Musk also encouraged Mr. Trump to choose Mr. Vance in private communications recently. On Monday, Mr. Musk called Mr. Vance’s selection an “excellent decision.”

Mr. Vance has relied on Mr. Sacks, whom he called “one of my closest confidants” in politics at a gala this spring. After that event, Mr. Vance introduced Mr. Sacks to Mr. Trump’s oldest son, Donald Trump Jr.


J.D. Vance trat während des Wahlkampfes in 2016 in Erscheinung, weil sein Buch „Hillbilly Elegy“ eine Antwort auf die überraschende Stärke von Donald Trump zu haben schien. Vance erzählt dort von den zerfallenen Kleinstädten im mittleren Westen, weißer Armut und den Frust, der sich in der „white working class“ aufgestaut hatte. Das Buch wurde rauf und runterbesprochen und war wochenlang Bestseller und machte Vance zunächst zu einem Star der demokratischen Seite, auch wenn seine Analyse von Kulturchauvinismus nur so tropft.

Aber die Wahrheit ist: Vance war und ist Peter Thiels Junge. Peter Thiel und er lernten sich bereits zu Vances Unizeiten in 2011 kennen und gleich nach dem Studium half Thiel Vance in Silicon Valley Fuß zu fassen und investierte 2019 zusammen mit Marc Andrreesen und Eric Schmidt in sein Venture. Auch seinen Einstieg in die Politik 2021 als Senator finanzierte Thiel, unter anderem zusammen mit Robert Mercer. Vance verdankt Thiel … alles.

In einem lesenswerten, aber etwas mit Vorsicht zu genießenden Stück in der Vanity Fair wurde Vance, zusammen mit dem anderen politischen Projekt Thiels, Blake Masters, portraitiert.

Die Reportage versucht auch das intellektuelle Millieu einzufangen, in dem sich Vance bewegt. In den USA hat sich seit Trump I eine verstreute Szene von sich intellektuell gebenden Rechtsradikalen mit Schwerpunkt in New York Downtown gebildet, die – ähnlich wie die Identitären in Europa – versuchen, rechte Edgyness als das neue Schwarz zu verkaufen. Etwas Mode, Literatur und konservative Werte, inklusive Kulturkampf gegen Wokeistan und dazu das selbstzufriedene Grinsen, wenn man Menschen mit der eigenen Grausamkeit schockiert. Selbstredend wird die gesamte Szene von Peter Thiel finanziert, Lesungen, Festivals, Podcasts, alle streben dort nach den „Thielbucks“, wie es im Stück mehrfach heißt.

Die eigentliche, intellektuelle Ikone der Szene ist Curtis Yarvin, ein ehemaliger Silicon Valley Entrepreneur, in dessen Startup – ihr werdet es raten – Peter Thiel investiert hat und ein so guter Freund von ihm geworden ist, dass sie sogar die 2016 Election Night zusammen verbracht haben.

Ich habe Yarvin etwa seit 2015/16 auf dem Radar, damals galt er als einer der relevanten Stichwortgeber der umtriebigen „Alt-Right“-Internet-Szene. Von ihm stammt der Ausdruck „red pilled“, sowie die Idee der „Cathedral“, wie er die liberalen Semantik-Produktionsstätten von Harvard bis New York Times abfällig nennt. Seine persönliche Ideologie nennt er selbst „neo-reaktionär“ („Konservativismus ist für Loser“) und zieht eine ordentliche Machtakkumulation bei einem einzigen Herrscher der Demokratie vor. Damit ist er sich bekanntlich mit Peter Thiel einig und liefert die rechtfertigenden Semantiken für Oligarchen mit Thron-Ambitionen.

Dass der Monarchismus einfach ein zu Ende gedachter Libertarismus ist, war ja vielen bereits klar und ebenfalls klar, ist, warum Milliardäre darauf abfahren, aber irgendwie steht das alles ziemlich in Spannung zu Vance‘ Image als Arbeiter-Class-Hero. Als Senator setzt er sich durchaus für eine Stärkung der Gewerkschaften ein, will den freien Markt – insbesondere den Außenhandel – beschränken und sogar sozialstaatliches Engagement ausbauen. Vance zitiert neben Yarvin und Thiel auch noch ein paar sozialreformerische Einflüsse. Ich hege leise Zweifel daran, dass eine von den brutalsten aller Tech-Oligarchen gesponserte Vizepräsidentschaft zu einer arbeiterfreundlichen Politik führen wird, aber natürlich darf man nicht dem Fehler verfallen, Rechtsradikale auf ihre Konsistenz hin abzuklopfen. Ihnen geht es in erster Linie um Macht und erst an zweiter Stelle um noch mehr Macht.

So wirklich düster wird es zum Ende des Vanity-Fair-Stücks, als der Reporter von einem Gespräch unter Zweien erzählt, dessen Inhalt erstaunlich nahe dran an dem ist, was Vance auch in einem Podcast gesagt hat, den der Artikel ausgiebig zitiert:

Vance described two possibilities that many on the New Right imagine—that our system will either fall apart naturally, or that a great leader will assume semi-dictatorial powers.

“So there’s this guy Curtis Yarvin, who has written about some of these things,” Vance said. Murphy chortled knowingly. “So one [option] is to basically accept that this entire thing is going to fall in on itself,” Vance went on. “And so the task of conservatives right now is to preserve as much as can be preserved,” waiting for the “inevitable collapse” of the current order.

He said he thought this was pessimistic. “I tend to think that we should seize the institutions of the left,” he said. “And turn them against the left. We need like a de-Baathification program, a de-woke-ification program.”

“I think Trump is going to run again in 2024,” he said. “I think that what Trump should do, if I was giving him one piece of advice: Fire every single midlevel bureaucrat, every civil servant in the administrative state, replace them with our people.”

“And when the courts stop you,” he went on, “stand before the country, and say—” he quoted Andrew Jackson, giving a challenge to the entire constitutional order—“the chief justice has made his ruling. Now let him enforce it.”

This is a description, essentially, of a coup.

“We are in a late republican period,” Vance said later, evoking the common New Right view of America as Rome awaiting its Caesar. “If we’re going to push back against it, we’re going to have to get pretty wild, and pretty far out there, and go in directions that a lot of conservatives right now are uncomfortable with.”


Trump hat sich – da sind sich alle einig – Vance nicht ausgesucht, weil der zusätzliche Wählerstimmen einbringt. Vance ist ein Convenience Vize, mit dem sich Trump zum einen die Unterstützung der Silicon Valley Milliardärsklasse sichert und zum anderen ist es dabei sicher hilfreich, dass Vance „in for the Coup“ ist.

Der Artikel ist, wie gesagt, schon zwei Jahre alt und inzwischen gehört Vance zu den schärfsten rechtsradikalen Hardcore-Trumpern im Parlament: Für den nationalen Abtreibungsbann, gegen Emigration, gegen Ukrainehilfe und natürlich trägt auch er die Lüge der angeblich „gestohlenen Wahl“ vor sich her und will die Terror-Douchebags vom 6. Januar begnadigen.

Ein paar Fragezeichen gibt es noch: Thiel hatte sich nach seinem Endorsement bei der letzten Wahl nun gegen Trump ausgesprochen und sich aus der politischen Arena zurückgezogen und bisher gibt es meines Wissens kein Statement von im zu Vances Vizeticket und auch von Yarvin habe ich noch nichts gehört. Yarvin hatte erst kürzlich überraschend Joe Biden endorsed, aber wer weiß, aus dem wievielten Ironie-Layer das entsprungen ist und so warte ich wie alle gespannt auf seinen nächsten Newsletter.

Zuletzt kann man sich das alles noch mal von Rachel Maddow zusammenfassen lassen:

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Max Read fragt sich, ob die Siegesgewisseheit im Trump-Lager nicht etwas verfrüht ist und ob das mediale Momentum seit dem Attentat Realität ist, oder nur auf X existiert:

But it’s also a dangerous place to assess sentiment (or “vibes”) not just because it’s a very skewed sample of the population but because Twitter is only vibe shifts. It is the most volatile social network more or less by design and function; on Twitter, it is always already so over, and we are always already so back. It was only six days ago that the former president of the U.S. was nearly assassinated and the conventional wisdom on the website was that he’d cruise to re-election; that entire episode is about 36 hours away from near-total deletion from the platform’s collective memory as a new set of vibes arrives. To borrow a cliché, vibes on Twitter are like weather in [wherever you grew up and heard this joke first]: If you don’t like them, just wait a few minutes.


Insbesondere, da noch fast drei Monate Wahlkampf bevorstehen. In Deutschland machen wir auch kaum länger Wahlkampf und in so einer langen Zeit kann noch so viel passieren. Ich kann mir außerdem nicht vorstellen, dass es die Republikaner schaffen, ihr Momentum über drei Monate zu halten?

Andererseits will ich auch in diesem Newsletter noch einmal die Gefahr herausstellen, die von X ausgeht: Ja, seit dem Tod von Twitter hat X viel an Einfluss verloren, aber der Dienst ist immer noch überproportional mächtig. Keine der alternativen Plattformen hat es geschafft, eine Öffentlichkeit herzustellen, die den Namen verdient. Ein Großteil derjenigen, die an den Semantiken arbeiten (Journalist*innen, Forscher*innen, Influencer*innen, Expert*innen, Politiker*innen, Aktivist*innen, etc.) sind nachwievor auf X und lassen sich dort von Elon Musk das Hirn auf rechts frittieren. Und ja, vielleicht hat Max Read recht und dort ändert sich der Vibe um Donald Trump nochmal, aber Musk wird dann alle Hebel in Bewegung setzen, das zu verhindern.


Andreesson & Horowitz stecken ihr Geld nicht nur in Trump und Vance, sondern vor allem in direktes Crypto-Lobbying. Molly White hat eine extra Website aufgesetzt, FollowtheCrypto, die den Crypto-Lobbying-Einfluss trackt. Hier ihr Blogpost dazu.

In fact, the cryptocurrency industry has spent more on 2024 elections than the entire energy sector put together. These industries, all worth hundreds of billions or trillions of dollars, are being outspent by an industry that, even by generous estimates, is worth less than $20 billion.

Andreessen & Horowitz haben im Zuge ihrer zunehemenden politischen Einflussnahme eine „Little Tech Agenda“ als Blogpost veröffentlicht, die von David Karpf gekonnt auseinander genommen wird.

The “Little Tech Agenda” has nothing to do with innovation or technology. It’s just a VC wish list. The investor class isn’t clever enough to invest in companies that turn a profit by bringing useful products to market anymore. They need special treatment from the government for their bad investments to pay off. And they’re more than willing to spend in order to get it.

Im letzten Newsletter schrieb ich noch davon, dass ich mich mit Adam Tooze gedanklich verbunden fühle und da beginnt er prompt eine an meine Gedanken hoch anschlussfähige dreiteilige Reflexion zu „Hegemonie“. Im ersten Teil stellt er seine Theorie der Project-Power vor.

Hierarchy and inequality have structural preconditions, but they are produced and reproduced through clashing, rivalrous and unequal projects. Structures of power and inequality are the result not simply of inherited, given structures, but of repeated success and failures in a churning melee of projects and counter-projects.


Tooze fasst „Projekte“ allerdings weit:

  • Large-scale construction projects – building cities, mega-towers, damns, tunnels etc.
  • Launching a war and/or conducting military operations.
  • The calculations of revolutionary or counterrevolutionary politics.
  • Programs of large-scale economic development, whether public or private.
  • Constructing a network of international alliances.


Und so denkt Tooze auch die US-Hegemonie als ein Projekt, das an seinen Kulminationspunkt gelangt ist:

Far from entering an “end of history” in which the history-making force of project-power is displaced by the humming efficiency of an established and unquestionable machine endlessly reproducing its own unalterable truth, we face the reverse scenario: The culmination and interaction of projects of growth, political power and self-empowerment, on a scale never before seen, is generating a massive and escalating disequilibrium.


Ich denke ja Wirtschaft als Netzwerk von Abhängigkeiten und Infrastrukturen (NAI), die sich wechselseitig erschaffen und in dieser Symbiogenese ist Project-Power der Modus, in dem dieses „sich-Erschaffen“ passiert.

Was Tooze hier leider etwas unterbelichtet lässt, ist die Tatsache, dass Projekte nie aus dem Nichts heraus entstehen, sondern immer schon in Kontinuitäten eingebunden sind, die sie reproduzieren sollen. Projekte können zwar durchaus disruptiv sein, doch man muss sie auch als das jeweilige Sich-Weitererzählen Materiell-Semantischer Komplexe (MSK) verstehen.

Es ist nicht überraschend, dass Infrastrukturen eigene Semantiken ausbilden, alleine schon wegen all dem technischen und wissenschaftlichen Knowhow, das es braucht, um die Infrastruktur herzustellen, zu warten und zu erweitern. Aber wie sowohl die Ressource Dependence Theory, als auch die post-Keynsianische politische Ökonomie von Frederick E. Lee (aus dem letzten Newsletter) überzeugend darlegt, ist das erste Ziel jeder Organisation, sich selbst zu erhalten, was eben bedeutet, sich selbst weiterzuerzählen.

Und das wäre sogar für mich die definitorische Linie, die ich für Materiell-Semantische Komplexe ziehen würde: ein MSK ist 1) eine materielle Infrastruktur, die 2.) eine Selbsterzählung hat, die sie 3) in Form von Projekten fortschreibt. MSKs reichen folglich von der Katholischen Kirche über Familienhaushalte zu Staaten, Fußballvereinen, der Nato, Plattformen, Unternehmen, oder „den Westen“.


Im zweiten Teil der Hegemonie-Serie kritisiert Tooze den unreflektierten Gebrauch von Gramscis „Interregnum„-Begriffs. Besser bekannt ist das betreffende Gramsci-Zitat in der phantasievollen Interpretation von Slavoj Žižek:

“The old world is dying and the new world struggles to be born. Now is the time of monsters.”


In Wirklichkeit lautet es aber:

„The crisis consists precisely in the fact that the old is dying and the new cannot be born, in this interregnum a great variety of morbid symptoms appear.“


Wobei Interregnum ein alter Name für den Zustand zwischen zwei Herrschaftsphasen ist. Jedenfalls bekenne ich mich Schuldig, sowohl für einen älteren Artikel, als auch für das Plattformbuch, aber mir selbst war gar nicht klar, welch Schindluder mit dem Konzept getrieben wird. Tooze kritisiert vor allem das schlichte Aufblasen dieses Zitates zu einem historistischen Framework, bei der nach jeder stabilen Herrschaftsphase das Chaos einer Interregnums-Phase wartet, wie in folgender Grafik suggeriert wird.

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Tooze verweist zurecht auf den spezifischen Blick, mit dem Gramsci auf die Geschichte schaut, der eben ein marxistisch-teleologischer Blick ist, also auf die konkrete Zukunft eines imaginierten Endes des Kapitalismus hin ausgerichtet ist. Lässt man diesen Blick weg, wird Herrschaft durch die Rede vom Interregnum zum Selbstzweck.

Praktischer Weise taucht Tooze tief in die Analyse des Wechsels von britischer Kolonialordnung zur US-Hegemonie ein, insistiert aber, dass die US-Hegemonie eben keine Antwort auf ein Interregnum war und dass diese Hegemonie in ihrer wirtschaftlichen Power und in der Neuartigkeit ihrer Herrschaftsinstrumente den Anspruch erheben, kann als eigenständige Entwicklung betrachtet zu werden.

When the US finally did manage to marshall its power for the consolidation of the Cold War bloc after 1945, it was a kind of power that no state had ever exercised before. It would be a unique high point and it would depend on a continuing, on-going scrambling effort at innovation. The most commonly cited example of successful American hegemony, the Marshall Plan was not Plan A for the postwar world, it was not even Plan C, it was Plan D. And it would have been unthinkable without the no less unprecedented form of state power represented by Stalin’s Soviet Union.


Tooze hat recht, die Idee des Interregnum zu hinterfragen, doch ich sehe den Übergang vom britischen Empire zur US-Hegemonie eher als einen Staffeltausch, denn als die Ablösung eines Weltreiches durch ein anderes. Beide sind „Projekte“ des Westens, dessen Erzählung im europäischen Kolonialismus beginnt und die globale Ordnung seit dem 2. Weltkrieg ist eben der Stand des aktuellen Projekts.

Auch Tooze sieht ja, dass sich dieses Projekt dem Ende zuneigt und wir alle haben ein nachvollziehbares Bedürfnis dem Scheißevulkan, zu dem unser Newsstream geworden ist, einen Namen und ein Konzept zu geben, das Hoffnung darauf macht, dass das irgendwann mal aufhört?

Mein Vorschlag: Ungleichzeitigkeit. Der Begriff der Ungleichzeitigkeit stammt von Ernst Bloch und er versuchte – ähnlich wie Gramsci – die „morbiden Symptome“ seiner Zeit, nämlich den Faschismus zu erklären. Bloch sah die Ungleichzeitigkeit darin, dass Deutschland als hochentwickelte Industrienation noch um ’33 den Semantiken einer traditionellen Agrargesellschaft verhaftet war. Der Faschismus wusste diese Dissonanz auszunutzen.

Blochs Beispiel legt leider die Idee einer linearen Fortschrittsentwicklung nah, von der wir bereits gelernt haben, dass sie ein schwer belastetes kolonioniales Erbe ist. Doch im Kontext der MSKs kann kann man das Konzept der Ungleichzeitigkeit ganz leicht aus dieser Struktur befreien.

Ähnlich wie das gegenseitige sich Hervorbringen von Abhängigkeiten und Infrastrukturen, bringen auch Infrastrukturen und Semantiken einander hervor. Die materiellen Praktiken zur Erschaffung und Betrieb von Infrastrukturen machen Erzählungen notwendig, die dann zukünftige Projekte beeinflussen, etc.

Doch weil der Prozess der materiell-semantischen Symbiogenese eben nicht linear verläuft, entstehen immer wieder Ungleichzeitigkeiten, kleine, große, riesige. Man kann Ungleichzeitigkeiten für unsere Betrachtung als materiell-semantische Dissonanz verstehen, also als ein Auseinanderklaffen von materieller Realität und der sie beschreibenden Semantiken.

Ein Beispiel ist das Internet: Neue Infrastrukturen veränderten unsere Modi der Kommunikation, aber gedanklich leben wir nachwievor in der Gutenberggalaxis. Auch Semantiken haben Netzwerkeffekte und LockIn. Wandel findet zwar statt, aber langsam und der äußert sich z.B. in Reibungsereignissen zwischen den materiellen Infrastrukturen, die unsere Leben umgestalten und den inadäquaten Versuchen, sie zu beschreiben, geschweige denn, zu regulieren.

Auf den Westen bezogen bedeutet das, dass sein relativer, materieller Rückzug auf der Weltbühne auf eine Bevölkerung trifft, die ihr Privileg, sich über andere stellen zu dürfen, als den Pokal eines meritokratischen Wettbewerbs der Völker im „Zivilisiersein“ betrachtet. Eine Welt- und Zivilordnung, in der die weißen europäischstämmigen diesen Pokal nicht im Abo haben, wird für sie als nicht weiter unterstützenswert betrachtet, weswegen Menschen wie Vance und Trump oder auch die AfD mit ihrer alles aufkündigenden Rhetorik so erfolgreich sind.

Faschismus ist aus dieser Sicht ein „Doubling Down“ auf die Widersprüche eines überkommenen Systems. Ja, die Welt ist ungerecht, let’s keep it that way.

Wenn die Semantiken also nicht mehr zu den Materiellen Realitäten passen, dann müssen wir nur die Semantiken in die den Zustand des 20. Jahrhunderts zurückdrehen, dann wird materiell wieder alles in Ordnung kommen.

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Was es stattdessen braucht – und das sollte aus dieser Analyse klar geworden sein – sind neue Semantiken. Es braucht neue Weisen der Weltbeschreibung, ein neues Worlding, vielleicht auch neue Institutionen des Worldings, die uns wieder in die Lage versetzten, politisch über Projekte zu streiten.

mspr0.de/krasse-links-no-22/


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