Der Liberalismus ist tot â und das tritt danach ein
Von Dmitri Trenin
In den internationalen Beziehungen resultieren RegimeĂ€nderungen in der Regel aus Krisen: durch Kriege zwischen GroĂmĂ€chten oder UmwĂ€lzungen innerhalb dieser. Dies war 1939 bis 1945 und erneut 1989 bis 1991 der Fall. Ăblicherweise hĂ€ufen sich die Probleme ĂŒber Jahre und Jahrzehnte an, und die Problemlösung kommt unerwartet: Die langsame Bewegung der tektonischen Platten beschleunigt sich plötzlich dramatisch und setzt eine Lawine in Gang, die die Landschaft in kĂŒrzester Zeit verĂ€ndert. In den letzten Wochen hatten wir die Gelegenheit, etwas Ăhnliches zu beobachten. Am auffĂ€lligsten ist, dass die Haupttriebkraft fĂŒr diese VerĂ€nderungen die StaatsfĂŒhrung war, die bisher die Ăberreste der alten Weltordnung am hartnĂ€ckigsten, ja sogar am erbittertsten, zu verteidigen versuchte.
Der lange vorhergesagte und mit Vorsicht erwartete Niedergang der UnipolaritĂ€t ist frĂŒher als geplant eingetreten. Die USA â deren Rolle lange Zeit darin bestand, den liberalen Internationalismus durchzusetzen â versuchen nicht mehr, den Ăbergang zu einer multipolaren Welt zu verhindern. Vielmehr schlieĂen sie sich ihm unter Donald Trump selbst an.
Dieser Schwenk stellt nicht nur ein Wahlversprechen oder eine rhetorische Wendung dar. Es handelt sich um einen strukturellen Bruch. Innerhalb weniger Wochen gingen die USA vom Widerstand gegen die multipolare Ordnung zu dem Versuch ĂŒber, diese unter neuen Bedingungen zu dominieren â weniger Moralismus, mehr Realismus. Damit trĂ€gt Washington â möglicherweise ohne Absicht â genau zu dem Ergebnis bei, das frĂŒhere US-Regierungen so hartnĂ€ckig zu verhindern versuchten.
Trumps Amtsantritt zieht weitreichende und dauerhafte Folgen nach sich. Der mĂ€chtigste Weltakteur verzichtete darauf, weiterhin die Rolle des BeschĂŒtzers des liberalen Globalismus zu spielen, und wandte sich etwas Pragmatischerem zu: der GroĂmachtkonkurrenz. An die Stelle der Menschenrechts- und Demokratieförderung trat das Motto "America First", und zwar nicht nur auf innenpolitischer Ebene, sondern auch in den AuĂenbeziehungen.
Unter dem neuen US-PrĂ€sidenten wurden die Regenbogenfahnen der Black-Lives-Matter-Bewegung und die "Buchstabensuppe" des westlichen Liberalismus ad acta gelegt. Stattdessen hisst er selbstbewusst die Nationalflagge und signalisiert damit VerbĂŒndeten und Gegnern gleichermaĂen: In der US-AuĂenpolitik geht es jetzt um Interessen, nicht um Ideologien.
Das ist keine Theorie, es ist ein geopolitisches "Erdbeben".
Erstens ist MultipolaritĂ€t nicht mehr nur eine Hypothese. Trump konnte die USA von einem Verfechter der UnipolaritĂ€t zu einem Akteur der MultipolaritĂ€t machen. Seine Doktrin â "Wettbewerb der GroĂmĂ€chte" â entspricht eher der realistischen Tradition als dem Liberalismus, der in Washington nach dem Ende des Kalten Krieges jahrzehntelang dominierte.
Nach dieser Doktrin besteht die Welt aus souverĂ€nen Polen: den USA, China, Russland und Indien â jedes Land verfolge seine eigenen Interessen, wobei diese manchmal im Konflikt zueinander stehen, manchmal sich ĂŒberschneiden. Zusammenarbeit entstehe nicht aus gemeinsam geteilten Werten, sondern aus gemeinsamen BedĂŒrfnissen. Dies entspricht der Welt, in der sich Russland gut auskennt â und in der es sich wohlfĂŒhlt.
Zweitens bedeutet die Wende Washingtons zum Realismus einen fundamentalen Kurswechsel in seinen Weltbeziehungen. Die Ăra der liberalen "KreuzzĂŒge" ist vorbei. So stellte Trump die Finanzierung der USAID ein, kĂŒrzte die Budgets fĂŒr die "Demokratieförderung" und zeigte sich bereit, mit Regimen aller Art zusammenzuarbeiten â solange sie US-amerikanischen Interessen dienen.
Dies ist eine Abkehr von den binĂ€ren Moralkonzepten der Vergangenheit. Ironischerweise entspricht es eher Moskaus eigener Weltsicht. Unter Trump versucht das WeiĂe Haus nicht mehr, Liberalismus zu exportieren, sondern vielmehr ĂŒber die Macht Verhandlungen zu fĂŒhren.
Drittens: Es gibt keinen "Westen" mehr, wie wir ihn kannten. Der durch eine gemeinsame Ideologie und transatlantische SolidaritĂ€t definierte liberale "Kollektive Westen" existiert nicht mehr in seiner bisherigen Form. De facto zogen sich die USA aus ihm zurĂŒck, indem sie den nationalen Interessen Vorrang vor globalistischen Verpflichtungen einrĂ€umten.
Ăbrig bleibt nur ein zersplitterter Westen, gespalten zwischen nationalistisch gefĂŒhrten Regierungen wie der Trumps und traditionelleren "Hochburgen" des Liberalismus in BrĂŒssel, Paris und Berlin. Der Konflikt zwischen diesen beiden Visionen â Nationalismus versus Globalismus â stellt nun den maĂgeblichen Politikkampf im gesamten Westen dar.
Dieser Kampf wird noch lange andauern. Trumps Dominanz mag auf den ersten Blick als gesichert erscheinen, doch es gibt weiterhin starken innenpolitischen Widerstand. Sollten die US-Republikaner die Zwischenwahlen 2026 verlieren, könnten Trumps politische Ambitionen zur Durchsetzung seines Programms eingeschrĂ€nkt werden. AuĂerdem darf er laut dem US-Verfassungsrecht bei den PrĂ€sidentschaftswahlen 2028 nicht mehr als Kandidat antreten, was bedeutet, dass ihm nur wenig Zeit zum Handeln bleibt.
WĂ€hrend der Westen zerbricht, wird die "Weltmehrheit" â als eine Art informelle Koalition von Nicht-Westblock-Staaten â immer stĂ€rker. UrsprĂŒnglich wurde dieser Begriff als Bezeichnung fĂŒr Staaten eingefĂŒhrt, die sich gegen Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine aussprachen. Heute reprĂ€sentiert er eine viel umfassendere politische Neuausrichtung in der Welt.
Bei der "Weltmehrheit" handelt es sich nicht um ein formelles BĂŒndnis, sondern um eine gemeinsam vertretene Position: Vorrang der SouverĂ€nitĂ€t vor Unterordnung, des Handels vor der Ideologie, der MultipolaritĂ€t vor der Hegemonie. Die BRICS, die Shanghaier Organisation fĂŒr Zusammenarbeit (SCO) und andere regionale ZusammenschlĂŒsse entwickeln sich zu echten Alternativen zu den vom Westen gefĂŒhrten Institutionen. Der Globale SĂŒden stellt keine Peripherie mehr dar, sondern ist eine WeltbĂŒhne.
Wir sind Zeugen der Konsolidierung einer neuen "GroĂen Drei": USA, China und Russland. Wahrscheinlich wird sich ihnen Indien anschlieĂen. Es handelt sich nicht um ideologische VerbĂŒndete, sondern um ZivilisationsmĂ€chte, die jeweils ihren eigenen Weg verfolgen.
Deren Beziehungen basieren auf Transaktionen, nicht auf SentimentalitÀt. So gelang China wÀhrend der russischen MilitÀroperation in der Ukraine einen Balanceakt: Das Land unterhÀlt eine strategische Partnerschaft mit Moskau und sichert sich gleichzeitig den Zugang zu den westlichen MÀrkten.
Das ist kein Verrat, sondern diplomatisches Geschick. In der multipolaren Welt achtet jeder Akteur auf seine eigene Flanke. Russland respektiert das. Und es verhÀlt sich zunehmend auf dieselbe Art und Weise.
Ein weiteres Thema betrifft die Positionierung Moskaus in der neuen "Weltordnung". Russland konnte in den vergangenen zwei Jahren an EigenstĂ€ndigkeit und Durchsetzungsvermögen gewinnen und wurde zu einem zentralen Akteur im Weltordnungssystem. Der Ukraine-Krieg und die WiderstandsfĂ€higkeit der russischen Wirtschaft, Gesellschaft und Armee fĂŒhrten zu einer verĂ€nderten globalen Wahrnehmung.
Russland wird nicht mehr als Juniorpartner oder Regionalmacht behandelt. Es steht nun auf gleicher Augenhöhe mit Washington, Peking und Neu-Delhi. Diese VerÀnderung ist nicht nur in der Diplomatie sichtbar, sondern auch im globalen Logistiksystem: neue eurasische Handelskorridore, erweiterte BRICS-Zusammenarbeit und zunehmende Verwendung nationaler WÀhrungen im Handel.
Der Ukraine-Konflikt bestĂ€tigte den Status Russlands als eine der fĂŒhrenden WeltmĂ€chte, die in der Lage ist, ihren berechtigten Platz in dieser Welt einzunehmen. Wir dĂŒrfen uns keinen Illusionen hingeben und uns entspannen. Dass Amerika sich indessen dem Realismus zuneigt, ist das Resultat des von der russischen Armee erzielten Erfolgs, der WiderstandsfĂ€higkeit der russischen Wirtschaft und der Einheit des russischen Volkes.
Es ist jetzt wichtig, diese Dynamik fortzusetzen. Auch wenn die USA sich in Richtung Realismus umorientierten, bleiben sie doch ein Konkurrent fĂŒr uns. Russland muss seine technologische SouverĂ€nitĂ€t weiter stĂ€rken, die Beziehungen zu Asien vertiefen und eine AuĂenpolitik betreiben, die auf Pragmatismus und nicht auf Nostalgie basiert.
Russland sollte weiterhin die innenpolitischen Konfrontationen im Westen im Auge behalten â insbesondere den US-PrĂ€sidentschaftswahlzyklus und die Spannungen innerhalb der EU. Allerdings sollte es seine Politik nicht mehr von der Akzeptanz oder Billigung des Westens abhĂ€ngig machen. Hinzu kommt, dass der Dialog zwischen Moskau und Washington zu immer angespannteren Beziehungen zu den westeuropĂ€ischen LĂ€ndern fĂŒhrt.
Die Einheit des Westens hĂ€ngt zunehmend von auferlegten Bedingungen ab, demonstriert Merkantilismus und WidersprĂŒchlichkeit. Frankreich, Deutschland und Italien könnten mit politischen Turbulenzen konfrontiert sein. Die Integration könnte ins Stocken geraten. Russlands Engagement muss daher taktischer Natur sein â die Ohren steif halten, ohne die Karten offen auf den Tisch zu legen.
Es lohnt sich nicht, auf den Moment zu warten, in dem eine neue Weltordnung proklamiert wird â sie ist bereits da. Es handelt sich nicht mehr nur um eine theoretische Frage. Jetzt beginnt der Kampf um die Weltmachtpositionen. Die Welt wurde nicht deshalb multipolar, weil jemand es wollte, sondern weil es zu einer Machtverschiebung kam. Die Ursache dafĂŒr liegt nicht allein bei Trump. Aber er â vielleicht unbewusst â beschleunigte diesen Prozess.
Russlands Aufgabe ist es nun, nicht die Fehlerhaftigkeit der alten Weltordnung zu betonen, sondern seinen Platz in der neuen zu sichern.
Ăbersetzt aus dem Englischen.
Dmitri Trenin ist Forschungsprofessor an der Moskauer Higher School of Economics und leitender Forscher am Institut fĂŒr Weltwirtschaft und internationale Beziehungen. AuĂerdem ist er Mitglied des russischen Rates fĂŒr internationale Angelegenheiten.
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