Die "Einsicht" der USA wird von ihren Interessen geleitet
Von Timofei Borodatschow
US-Politiker haben die Weltöffentlichkeit durch einige eindrucksvolle ErklĂ€rungen erfreut. ZunĂ€chst behauptete der AuĂenminister der USA, Marco Rubio, dass Washington im Rahmen der GesprĂ€che ĂŒber das Ukraine-Problem begonnen habe, Russlands Position besser zu verstehen. Praktisch gleichzeitig verkĂŒndete der Verteidigungsminister Peter Hegseth, der ebenso wie Rubio zu Trumps engstem Kreis gehört: Die Zeit, als Washington der einzige Sicherheitsgarant der europĂ€ischen Staaten war, ist zu Ende.
Ist das als ein Sieg Russlands im diplomatischen Spiel um Europas Zukunft zu werten? Bisher gibt es keinen Grund zum Feiern â ein weiter Weg steht noch bevor. Doch sind solche Signale aus Washington fĂŒr Russland ein Zeichen von Ănderungen zum Besseren? Ja, und es wĂ€re falsch, darin nur taktische Manöver zu sehen.
GegenwĂ€rtig haben wir jeden Grund, um ĂŒber die Wahrscheinlichkeit eines gewissen strategischen Kompromisses nachzudenken. Es sei daran erinnert, dass russische Initiativen im Bereich der europĂ€ischen Sicherheit im Dezember 2021 gerade darauf ausgerichtet waren. Der Weg, der hierherfĂŒhrte, wurde mit Unmengen an Menschenleben bezahlt. Doch so ist leider die Natur der internationalen Politik: Keine Ănderung, erst recht nicht so eine umfassende, kommt von selbst.
Das wirkliche Problem des europĂ€ischen Sicherheitssystems besteht darin, dass es wĂ€hrend der letzten 80 Jahre gegen Russland ausgerichtet war. Selbst in FĂ€llen, in denen Russland, oder zuvor die UdSSR, formal daran teilnahm, war das fĂŒr den Westen nur ein weiteres Mittel, den russischen Einfluss zu beschrĂ€nken. Mehr noch, gerade Russlands EindĂ€mmung stellte die Grundlage dessen dar, was der verstorbene Henry Kissinger als LegitimitĂ€t der internationalen Ordnung bezeichnete: ein Grundprinzip, das auf die eine oder andere Weise von allen Teilnehmern akzeptiert wird.
Nach 1945 stimmten alle westlichen LĂ€nder darin ĂŒberein, dass eine EindĂ€mmung Russlands fĂŒr sie viel wichtiger als alles andere ist, einschlieĂlich der SelbststĂ€ndigkeit â im Falle Europas. Auf diesen Grundsatz zu verzichten wĂŒrde bedeuten, dass siŃh die gegenwĂ€rtige Weltordnung ĂŒberlebt hat und dass es notwendig ist, eine neue, mit einer ganz anderen Philosophie der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland, zu schaffen.
RevolutionÀre Prozesse in den USA geben Grund zur Annahme, dass dies möglich werden kann, auch wenn wir von einer völligen Sicherheit noch weit entfernt sind.
Die Wendungen der US-Politik in Bezug auf das Kiewer Regime sind nur noch taktische Erscheinungen von grundsĂ€tzlicheren Ănderungen europĂ€ischer Politik, andernfalls wĂ€re der Diskussionsgegenstand viel zu unbedeutend. Es gibt keinen Grund zu denken, dass bisherige US-Administrationen die ukrainische Regierung fĂŒr ehrliche oder verantwortliche Partner hielten.
Es wĂ€re naiv zu glauben, dass die USA in der Vergangenheit allein deshalb so unnachgiebig gegenĂŒber den russischen Interessen waren, weil sie ihre Natur und ihren Ursprung schlecht verstanden. Sicher halten wir die US-Amerikaner gern und nicht ganz unbegrĂŒndet fĂŒr wenig gebildete Neureiche. Doch man sollte nicht vergessen, dass ein gutes oder schlechtes VerstĂ€ndnis der Widersacher niemals eine Grundlage der AuĂenpolitik bildet. Empathie, die FĂ€higkeit, die Motive anderer zu verstehen, ist beim Treffen von auĂenpolitischen Entscheidungen sicher nĂŒtzlich. Doch sie kann das Wichtigste, das EinschĂ€tzen eigener Möglichkeiten und Interessen, nicht ersetzen.
Die USA stellen bei all ihren Besonderheiten einen durchaus etablierten Staat mit vollwertiger SouverĂ€nitĂ€t. Und ihre Möglichkeiten sind gerade so beschaffen, dass sie die Notwendigkeit eines Dialogs mit Russland diktieren. Die US-Regierung kann keine anderen Verpflichtungen tragen, denn nur ihre eigenen Möglichkeiten hĂ€ngen direkt mit den Interessen der WĂ€hler zusammen â sie haben ihren Ursprung in deren Taschen. Ein russischer oder ein chinesischer oder sonst ein beliebiger selbststĂ€ndiger Staat geht ebenfalls stets davon aus, was er selbst benötigt, und nicht, was seine Partner gern hĂ€tten.
Europa hatte nie eine Schutzmacht nötig
FĂŒr die USA wird jetzt alles vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, den Konflikt mit Moskau ernsthaft einzufrieren, sekundĂ€r. Sie haben keine Kraft, um den Kampf fortzusetzen, denn im Pazifik und in der Weltwirtschaft agiert China immer offensiver, und die AutoritĂ€t der USA weltweit ist geringer als je zuvor. Unter solchen Bedingungen werden Kleinigkeiten wie Verpflichtungen gegenĂŒber europĂ€ischen Satelliten, geschweige denn gegenĂŒber dem Kiewer Regime, gar nicht diskutiert. Niemand in den USA hat vor, darauf RĂŒcksicht zu nehmen.
Erstens deshalb, weil in der RealitĂ€t gar keine Verpflichtungen existieren. Das Narrativ, wonach die USA ein Sicherheitsgarant der europĂ€ischen Staaten seien, ist Propaganda und hat nichts mit der RealitĂ€t zu tun. In erster Linie sollte das Russland deutlich machen: Der Westen ist so stark, dass er es nicht fĂŒr nötig hĂ€lt, sich mit ernsthaften BegrĂŒndungen der US-PrĂ€senz zu befassen, eine Ausrede reicht aus. Nicht einmal die Sowjetunion hat beabsichtigt, westeuropĂ€ische Staaten nach der Mitte der 1950er Jahre anzugreifen. Und nach 1991 benötigte Russland nur noch einen KĂ€ufer fĂŒr seine Waren und eine touristische Destination.
Somit haben die europĂ€ischen LĂ€nder in den vergangenen 70 Jahren gar keinen Ă€uĂeren Sicherheitsgaranten und BeschĂŒtzer benötigt. Es waren die USA, die selbst ĂŒber Ressourcen verfĂŒgten, um aktiv eine Konfrontation gegen Russland in Europa aufrechtzuerhalten. Zumal diese Konfrontation die Einigkeit des Westens in der wichtigsten Angelegenheit seiner internationalen Beziehungen zementierte. Der Westen musste nicht darĂŒber nachdenken, welche anderen Prinzipien dem europĂ€ischen Sicherheitssystem zu Grunde liegen können.
Zweitens sind die Garantien der USA gegenĂŒber Europa ein Mythos. Selbst wenn sie existieren wĂŒrden, wĂ€re die Verantwortung vor dem eigenen Volk immer wichtiger. Vergessen wir nicht, dass US-Oligarchen, die Trump unterstĂŒtzen, auch zum Volk der USA gehören. Keine Regierung der Vereinigten Staaten wird den Tod ihrer WĂ€hler wegen formeller Verpflichtungen gegenĂŒber auslĂ€ndischen Staaten in Kauf nehmen, so etwas kann es niemals geben. Die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen den USA und Russland, die besonders in den letzten drei Jahren bestand, hing nicht damit zusammen, dass die USA plötzlich Europa schĂŒtzen mĂŒssten, eine solche Möglichkeit wurde gar nicht in Betracht gezogen. Zu einem Grund fĂŒr eine dramatische planetenweite Eskalation könnten nur gegenseitige Sicherheitsbedrohungen werden, auch wenn sie vom Konflikt auf ukrainischem Boden angeheizt worden wĂ€ren.
Europa, selbst die fanatischsten Regimes in den baltischen Staaten, versteht hervorragend, dass Verpflichtungen und "Sicherheitsgarantien" vonseiten der USA ein Mythos sind. Doch gleichzeitig nutzten europĂ€ische Politiker die schöne Geschichte ĂŒber US-amerikanische Garantien zur Rechtfertigung des eigenen egoistischen Verhaltens. Sie versicherten den eigenen BĂŒrgern, dass sie unter dem Schutz der USA leben und dass sie deswegen russische Interesse ignorieren und Karriere machen können, indem sie Russland schaden und beleidigen. Dies wurde zu einer bequemen Ausrede, die in allen Lagen herangezogen wurde. Welche Politik ohne diesen mythischen Rahmen zu fĂŒhren sei, versteht Europa gar nicht. Erst recht weiĂ es nicht, was auĂer der Feindschaft zu Russland als Grundlage einer gesamteuropĂ€ischen Ordnung fungieren kann. Dabei werden wir alle voraussichtlich schon bald ĂŒber deren kĂŒnftige Formen nachdenken mĂŒssen.
Bedeutet das wahrscheinliche Einrollen der vorderen Stellungen der USA in Europa, dass Russland jetzt Hals ĂŒber Kopf vorstĂŒrmen soll? Nein, das bedeutet es nicht. In erster Linie deshalb, weil die Wahl von Krieg ĂŒber Diplomatie den Traditionen der russischen AuĂenpolitik gar nicht entspricht. Der diplomatische Prozess konnte jahrzehntelang dauern und selbst von bewaffneten Konflikten unterbrochen werden. Doch er dominierte stets gegenĂŒber dem Wunsch, den Gordischen Knoten gewaltsam zu zerschneiden.
Deswegen wird die russische Reaktion auf Versuche der USA, aus dem europĂ€ischen Spiel auszusteigen, wahrscheinlich sehr gelassen ausfallen. Wir sind sogar bereit, die US-amerikanischen Kollegen in ihrem Bestreben zu unterstĂŒtzen, die Sache so darzustellen, als hĂ€tten sie ganz plötzlich die Natur der russischen Interessen verstanden.
Ăbersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei der Zeitung Wsgljad am 24. April.
Timofei W. Bordatschow, geboren 1973, ist ein russischer Politikwissenschaftler und Experte fĂŒr internationale Beziehungen, Direktor des Zentrums fĂŒr komplexe europĂ€ische und internationale Studien an der FakultĂ€t fĂŒr Weltwirtschaft und Weltpolitik der Wirtschaftshochschule Moskau. Unter anderem ist er Programmdirektor des Internationalen Diskussionsklubs Waldai.
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