Deutschlands industrieller Niedergang setzt sich fort
Von Rainer Rupp
Ein Anstieg der Unternehmensinsolvenzen, rĂŒcklĂ€ufige Industrieproduktion und strukturelle Herausforderungen haben unser Land in eine wirtschaftliche Notlage gestĂŒrzt, die schlimmer ist als die Finanzkrise von 2008. Laut einer aktuellen Analyse des Kreditversicherers Allianz Trade wird in Deutschland auch in den Jahren 2025 und 2026 die Welle von Insolvenzen anhalten, was weitere ArbeitsplĂ€tze vernichten und Lieferketten unterbrechen wird. Nicht zuletzt droht die VerĂ€nderung der wirtschaftlichen IdentitĂ€t Deutschlands durch die weitgehende Vernichtung ganzer Industriebranchen aufgrund der exzessiv hohen Energiepreise.
Eine Rekordwelle von Insolvenzen
Die wirtschaftlichen Probleme Deutschlands zeigen sich deutlich im alarmierenden Anstieg der Unternehmensinsolvenzen. Allianz Trade prognostiziert fĂŒr 2025 einen Anstieg der Insolvenzen um 11 Prozent auf etwa 24.400 FĂ€lle, gefolgt von einem weiteren Anstieg um 3 Prozent auf 25.050 FĂ€lle im Jahr 2026. Diese Zahlen folgen auf ein katastrophales Jahr 2024, in dem mit 87 GroĂinsolvenzen ein negativer Rekord verzeichnet wurde â ein Anstieg von 36 Prozent gegenĂŒber dem Vorjahr. Die betroffenen Unternehmen erzielten einen Gesamtumsatz von 17,4 Milliarden Euro, ein Plus von 55 Prozent im Vergleich zu 2023. Diese Insolvenzen setzen schĂ€tzungsweise 210.000 direkt betroffene ArbeitsplĂ€tze in ganz Deutschland aufs Spiel. Ăber nicht sofort sichtbare SekundĂ€reffekte wird die Vernichtung der ArbeitsplĂ€tze ein Vielfaches von 210.000 betragen. Und das war im Jahr 2023. Von Jahr zu Jahr wurde und wird es schlimmer.
Allein im ersten Quartal 2025 meldeten 16 groĂe Unternehmen mit einem Umsatz von jeweils mindestens 50 Millionen Euro Insolvenz an. Zwar stellt dies einen leichten RĂŒckgang gegenĂŒber dem gleichen Zeitraum 2024 dar, doch ist es doppelt so viel wie im ersten Quartal 2023. Besonders betroffen sind der textile Einzelhandel, die Automobilzulieferindustrie, das Gesundheitswesen und die Chemiebranche. Drei KrankenhĂ€user, drei Textilunternehmen, zwei Automobilzulieferer und zwei Chemieunternehmen meldeten Anfang 2025 Insolvenz an. "Es war viel los in der Finanzkrise 2008 und den folgenden Jahren. Aber jetzt ist es schlimmer. Immer mehr Branchen sind betroffen. Das habe ich noch nie gesehen", sagt JĂŒrgen Philippi, ein öffentlich bestellter Konkurs-Versteigerer mit 30 Jahren Erfahrung, in einem Interview mit der ARD-Tagesschau. Philippi ist mit InsolvenzfĂ€llen so ĂŒberlastet, dass er zahlreiche Kunden abweisen musste.
Strukturelle und externe Belastungen
Der industrielle Niedergang Deutschlands begann jedoch schon lange vor den jĂŒngsten globalen Störungen wie den Corona-Lockdowns, dem US-Handelskrieg gegen China und dem EU/US-Sanktionskrieg gegen Russland, der hauptsĂ€chlich unser Land getroffen hat. Seit Ende 2017 ist die Industrieproduktion stetig zurĂŒckgegangen, wie die Financial Post berichtet. Die Energiekrise infolge Russlands spezieller MilitĂ€roperation in der Ukraine 2022 verschĂ€rfte die Lage, da die Kosten fĂŒr energieintensive Branchen wie Stahl und Chemie in die Höhe schossen.
Die Hafenstadt Duisburg, das industrielle Herz Deutschlands, ist zum Symbol dieses Niedergangs geworden, mit stillgelegten Fabriken und leidenden lokalen Wirtschaften, wie der US-Wirtschaftskanal Bloomberg berichtet. Externe Faktoren wie die Zollpolitik von US-PrÀsident Donald Trump verschÀrfen die aktuelle Lage zusÀtzlich.
Milo Bogaerts, Vorstandsvorsitzender von Allianz Trade in Deutschland, Ăsterreich und der Schweiz, warnt: "Angesichts der dĂŒsteren Wirtschaftsaussichten in Deutschland und im globalen Handel sowie der vielen Unsicherheiten durch den Zollsturm erwarten wir auch 2025 zahlreiche GroĂinsolvenzen und damit erhebliche Verluste." Diese Zölle, die auf die deutsche Automobil- und Stahlindustrie abzielen, bedrohen die ohnehin angeschlagene deutsche WettbewerbsfĂ€higkeit zusĂ€tzlich.
Intern stöĂt Deutschland auf strukturelle Herausforderungen. Hohe Steuern, ĂŒbermĂ€Ăige BĂŒrokratie und ArbeitskrĂ€ftemangel untergraben das Vertrauen der Unternehmen. Auktionator Philippi stellt fest: "Ich beobachte zunehmend, dass GeschĂ€ftsfĂŒhrer ihre angeschlagenen Unternehmen nicht fortfĂŒhren wollen, obwohl es noch Marktchancen gibt. Ihre BegrĂŒndung? Zu hohe Steuern, zu viel BĂŒrokratie." Er fĂŒgt hinzu: "'Ich will das nicht mehr machen', höre ich immer öfter." Die ZurĂŒckhaltung von Unternehmensleitern unterstreicht ein tieferes Unbehagen im deutschen Wirtschaftssystem.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat Alarm geschlagen. Anfang April 2025 veröffentlichten ĂŒber 100 VerbĂ€nde eine ErklĂ€rung, in der sie die regierende CDU-SPD-Koalition direkt ansprachen: "In den letzten Wochen hat sich die wirtschaftliche Lage dramatisch verschlechtert. Die Fakten sind unbestreitbar. Deutschland befindet sich in einer ernsten Wirtschaftskrise.
Ein Vergleich mit anderen LĂ€ndern zeigt, dass diese Krise hausgemacht ist."
Der BDI kritisiert die Koalition fĂŒr eine unzureichende Steuerpolitik. "In der Steuerpolitik bleibt die Koalition hinter dem Notwendigen zurĂŒck. KĂŒnftig muss jeder Spielraum genutzt werden, um Unternehmen zu entlasten, damit die Steuerlast schnell international wettbewerbsfĂ€hig wird", sagt Tanja Gönner, HauptgeschĂ€ftsfĂŒhrerin des BDI. Die Modernisierungsagenda der Koalition sei ambitioniert, doch es fehle an entschlossener Umsetzung.
Der "kranke Mann Europas"
Der Begriff "kranker Mann Europas", einst auf Italien gemĂŒnzt, wurde nun von Fabio Panetta, PrĂ€sident der italienischen Zentralbank und Mitglied des Vorstands der EuropĂ€ischen Zentralbank, auf Deutschland ĂŒbertragen. In einer Rede an der Bocconi-UniversitĂ€t in Mailand wies Panetta auf Deutschlands wirtschaftliche Stagnation hin und betonte, dass die Gesamtwirtschaft in den letzten zwei Jahren geschrumpft sei. Dies markiere eine dramatische Kehrtwende fĂŒr ein Land, das lange fĂŒr sein exportgetriebenes Wachstum und seine industrielle StĂ€rke gefeiert wurde. Das deutsche BIP-Wachstum hinke anderen LĂ€ndern der Eurozone hinterher, mit nur 0,2 Prozent Wachstum im Jahr 2024, verglichen mit 1,5 Prozent im Euroraum, wie die OECD berichtet.
Die Energiekosten bleiben ein zentrales Problem. Deutschlands Entscheidung, die Kernenergie abzuschalten und seine AbhĂ€ngigkeit von preiswertem russischem Gas vor 2022 machten das Land anfĂ€llig fĂŒr Preisschocks. Der Ăbergang zu alternativen Energiequellen war kostspielig und langsam. Zugleich hat er das gesamtwirtschaftliche Niveau der Energiekosten fĂŒr Verbraucher und Industrie erheblich angehoben, wodurch ganze Branchen, wie die Metallverarbeitung, Metallfertigung und Chemie, stark belastet wurden oder sogar ihre WettbewerbsfĂ€higkeit verloren haben.
Die Automobilindustrie, ein Eckpfeiler der deutschen Wirtschaft, steht zusĂ€tzlich unter Druck. Durch die ĂŒbereifrige und vollkommen misslungene, aber extrem teure Umstellung auf Elektrofahrzeuge, die nun LadenhĂŒter sind, wurden zig Milliarden Euro in den Sand gesetzt. Derweil floriert die viel weiter entwickelte und preisgĂŒnstigere chinesische Konkurrenz. Volkswagen etwa kĂŒndigte im Jahr 2024 WerksschlieĂungen und Entlassungen an, da die Nachfrage sinkt und die Produktionskosten steigen.
Dominoeffekte und soziale Folgen
Die Welle von Insolvenzen löst einen Dominoeffekt in den Lieferketten aus. Bogaerts warnt, dass GroĂinsolvenzen "besonders groĂe Löcher in den Kassen" von Zulieferunternehmen hinterlassen und die Produktion stören könnten. Kleine und mittelstĂ€ndische Unternehmen, das RĂŒckgrat des deutschen Mittelstands, sind besonders anfĂ€llig. Der Verlust von alljĂ€hrlich Hunderttausenden qualifizierter und gut bezahlter ArbeitsplĂ€tze droht soziale Ungleichheiten zu vertiefen, insbesondere in Industrieregionen wie Nordrhein-Westfalen.
Die öffentliche Stimmung, wie sie in Posts auf X widergespiegelt wird, zeigt wachsende Frustration. Nutzer beschreiben Deutschland als "ehemaliges Industriezentrum", das durch "selbstverschuldete Wunden" wie hohe Energiekosten und Ăberregulierung gelĂ€hmt ist. Ein Nutzer beklagt: "Deutschlands Niedergang ist eine Warnung fĂŒr Europa â die Industrie zu ignorieren, geschieht auf eigene Gefahr." Diese Meinungen sind anekdotisch, stimmen aber mit der EinschĂ€tzung des BDI ĂŒberein, dass es sich um eine "hausgemachte" Krise handelt.
Ein Weg nach vorn?
Die Umkehrung der Deindustrialisierung unter dieser Regierung wird ĂŒber das vollmundige Versprechen, alles Nötige zu tun, nicht hinauskommen. Denn diese Regierung wird von denselben Parteien gestellt, die fĂŒr die aktuelle Misere verantwortlich sind. Im Steuerhaus sitzen dieselben Leute, die in den letzten Jahrzehnten den Dampfer Deutschland inmitten von Klippen auf den Grund gefahren haben. Die aufeinanderfolgenden KapitĂ€ne hatten weder eine exakte Karte, noch wussten sie genau, wohin sie wollten. Das Einzige, was fĂŒr sie wichtig war, war KapitĂ€n zu bleiben. Daran hat sich auch mit der letzten Wahl nichts geĂ€ndert.
Um aus dieser Misere herauszukommen, bedarf es mehr als digitaler Modernisierung der BĂŒrokratie oder Steuererleichterungen und weniger BĂŒrokratie. Selbst der Chef des BDI denkt nur noch in kurzfristigen Dimensionen, wenn er als Lösung der Krise von der Bundesregierung fordert, den Staat effizienter und moderner zu gestalten und Investitionen in grĂŒne Energie, digitale Infrastruktur und ArbeitskrĂ€fteausbildung zu "fördern" beziehungsweise zu subventionieren. Das ist, als ob ein Arzt zur Behandlung eines offenen Beinbruchs ein Heftpflaster empfiehlt.
Mit einem staatspolitischen Taschenspielertrick hat sich die Merz-Regierung die Möglichkeit verschafft, bis zu einer Billion Euro neue Schulden aufzunehmen. Das verleiht viel Spielraum â aber eine klare Strategie, um den Dampfer wieder flott zu kriegen und die globale WettbewerbsfĂ€higkeit wiederherzustellen, fehlt. Immer mehr Waffen und Geld fĂŒr die Ukraine werden die deutsche Wirtschaft nicht retten, im Gegenteil, das könnte die Klippe sein, an der unser Dampfer zerschellen wird.
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