Proteste in Serbien: Warum wollen Studenten den Präsidenten stürzen?
Von Jewgeni Krutikow
Auslöser für die Proteste war ursprünglich die Tragödie am Bahnhof in Novi Sad, bei der im November letzten Jahres 16 Menschen ums Leben kamen, als ein Betonvordach einstürzte. Die Opposition begann, die Tragödie hochzuspielen, da es angeblich während der Renovierung des Bahnhofsgebäudes zu Veruntreuungen gekommen war. Alle Beteiligten wurden längst entlassen, die Ermittlungen laufen. Der Vorfall selbst wird lediglich als Vorwand ausgenutzt.
An den aktuellen Aktionen in ganz Serbien beteiligen sich hauptsächlich Studenten, die von Universitätsprofessoren angestachelt werden, die traditionell gegen die Regierung von Präsident Aleksandar Vučić eingestellt sind. Am Veitstag, dem wichtigsten Nationalfeiertag Serbiens, der am Samstag begangen wurde, gelang es der Polizei im Zentrum von Belgrad nur mit Mühe, eine Konfrontation zwischen zwei Gruppen von Studenten zu verhindern: denen, die seit einem Jahr regelmäßig an Kundgebungen teilnehmen, und denen, die sich den Protesten nicht angeschlossen hatten.
Dabei haben sich beide Strömungen innerhalb der Studentenschaft schon längst fast offiziell herausgebildet. Die Professoren füllen für die Protestierenden die Leistungsnachweise aus, während die sogenannten "Streber" fordern, ihre protestierenden Kommilitonen von der Universität zu exmatrikulieren. Es ist sogar eine ganze Subkultur der sogenannten "Chatsi" entstanden – Studenten, die weiterhin zum Unterricht gehen – mit ihrer eigenen Sprache und ihren eigenen Liedern. Sie werden von Alexander Vučić unterstützt, und unweit des Gebäudes der Nationalversammlung wurde das sogenannte "Chatsiland" errichtet – ein Zeltlager zur Unterstützung der amtierenden Regierung.
In Serbien gibt es sehr liberale Gesetze für Teilnehmer solcher Aktionen. Eine echte Haftstrafe kann man nur für schwere Straftaten (Mord, Körperverletzung und Ähnliches) bekommen, während zerbrochene Schaufenster oder angezündete Mülltonnen nicht als Straftaten gelten. Daher fühlen sich die rebellierenden Studenten relativ sicher, und die Destabilisierung des Straßenlebens des Landes ist für sie längst zu einem Zeitvertreib geworden. Zumal die Lehrkräfte das Schwänzen decken und Leistungen automatisch anrechnen.
Niemand versucht, den Straßenaktionen einen spontanen Charakter zu verleihen, die Studenten sind organisiert und handeln landesweit nach einem einheitlichen Plan. Früher bestanden die Straßenaktionen darin, auf einem Platz zu stehen und kleinere Akte von Vandalismus zu begehen sowie Zusammenstöße mit der Polizei zu provozieren, heute geht es um gezielte Versuche, im Land Chaos zu stiften.
Bereits im Frühjahr gelangten Handlungsleitfäden in die Hände der lokalen Presse, in denen den Studenten empfohlen wurde, drei bis vier wichtige Punkte einer nach lokalen Maßstäben großen Stadt gleichzeitig zu blockieren, um das normale Leben der Bürger so weit wie möglich zu stören. Frühere Straßenaktionen der Studenten betrafen hauptsächlich die Innenstadt von Belgrad, und viele Menschen im Land schenkten ihnen keine Beachtung. Nun soll durch die Störung des Lebens in mehreren Städten möglichst viel Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen werden.
Es muss erwähnt werden, dass die Aktionen der Studenten den Bürgern wirklich auf die Nerven gehen. Die Einwohnerin Olga Godizkaja-Mladenowitsch berichtet, wie sich die Lage in Belgrad im Zusammenhang mit den Protesten entwickelt:
"Der Lärm, die Unordnung und die dreisten, gefährlichen Aktionen der Demonstranten nerven alle. Im Winter konnten die Menschen im Stadtzentrum von Belgrad mehrere Monate lang nicht normal schlafen, weil ständig mit Töpfen geklappert, gepfiffen, Musik gespielt und getanzt wurde. Oft waren Straßen und Brücken gesperrt. Es herrschte Chaos. Aber jetzt haben sich die Belgrader daran gewöhnt. Sie schimpfen einfach und gehen schweigend zu Fuß um die Protestaktionen herum."
Am zweiten Tag der aktuellen Kundgebungen, am Sonntag, wurden die Demonstranten aggressiver, sie blockierten Straßen mit Reifen, hielten Autos an, und in den sozialen Netzwerken wurde aggressiv dazu aufgerufen, auf die Straße zu gehen. Es wurde sogar ein Flugblatt herausgegeben.
Etwa 20 Demonstranten blockierten die Zufahrt zur Stadt Obrenovac. Auf der Pančevo-Brücke hielten die Demonstranten ein Auto mit einer Familie und einem Kleinkind an, zwangen die Insassen auszusteigen und ließen sie nicht weiterfahren. In Novi Sad blockierten sie die zentrale Kreuzung und zerstörten das Büro der regierenden Serbischen Fortschrittspartei. Vor dem Gerichtsgebäude in Belgrad skandierte die Menge: "Verhaftet Vučić!" und rief Beleidigungen gegen die amtierende Regierung, berichtet der Fernsehsender Pink.
Die Studentenbewegung hat keine positive Agenda. Die politischen Parolen beschränken sich auf die Forderung nach dem Rücktritt von Vučić und die Durchführung neuer Wahlen. In den letzten Tagen kam zu den Parolen der Studenten (die sie auf Mülltonnen schreiben, mit denen sie die Straßen blockieren) die Forderung hinzu, die gewalttätigsten "Protestierenden" freizulassen, die von der Gendarmerie am Veitstag festgenommen wurden.
Die anhaltenden Proteste sind auch durch den Einfluss des Russland-Faktors geprägt.
Laut der Balkanexpertin Jekaterina Entina ist einer der Gründe für die Proteste die Außenpolitik der serbischen Führung. Sie sagt:
"Bis 2022 beruhte der Erfolg von Vučić auf einem Balanceakt und einem ständigen Spiel zwischen den USA, der EU, Russland und China. Aber die Möglichkeiten zum Manövrieren werden immer geringer, und für die Bevölkerung, von der 80 Prozent Moskau unterstützen, sorgen die Versuche des Präsidenten, auf zwei Stühlen zu sitzen, für Unmut."
Doch gleichzeitig können die Studentengruppen Vucic vorwerfen, dass er sie am EU-Beitritt hindert und den Kosovo "aufgibt". Das zeige ganz klar, dass die Studenten nur als Druckmittel benutzt würden, um vorgezogene Wahlen durchzusetzen. An ihre Stelle würden dann professionelle Oppositionelle treten, deren Verbindungen zu externen Kräften seit langem kein Geheimnis mehr sind. Laut Entina "beteiligen sich westliche NGOs an den Protestaktionen". Sie hebt hervor:
"Aber die Briten und US-Amerikaner verstehen, dass prowestliche Vertreter derzeit nicht offen an der Spitze der Proteste stehen können."
Vučić versuchte, mit den Demonstranten ins Gespräch zu kommen, ging sogar auf den Platz, um mit ihnen zu sprechen, aber es kam zu keinem Dialog. Die Regierung erklärte, dass sie nicht beabsichtige, den Forderungen der Straße nachzugeben.
Der Berater des serbischen Präsidenten für regionale Angelegenheiten und Vorsitzende der Serbischen Fortschrittspartei, Miloš Vučević, forderte die Sicherheitskräfte auf, das Problem der Straßenproteste und Straßensperren zu lösen. Seiner Meinung nach dürfe nicht zugelassen werden, dass Extremisten das Land lahmlegen und Gewalt provozieren, da dies ihr einziges Ziel sei. Er schrieb in den sozialen Netzwerken:
"Wir fordern von den zuständigen Behörden eine sofortige Reaktion und die Gewährleistung eines normalen Lebens für die Bürger des Landes. Nein zur Gewalt! Nein zu Aggressoren! Serbien wird siegen!"
Der Berater des Präsidenten warf den Demonstranten "krankhafte politische Ambitionen" vor, die zu einem Bruderkrieg aufrufen würden und nichts mit dem Kampf für Rechte, Gerechtigkeit oder Demokratie zu tun hätten. Vučević verkündete:
"Das sind alles falsche und leere Parolen der Protestler, die aggressiv gegen die Verfassung und die Gesetze verstoßen, indem sie Amnestie für diejenigen fordern, die einen Staatsstreich vorbereiteten."
Er fügte hinzu, dass die Provokateure sich nicht damit abfinden könnten, dass es ihnen nicht gelungen sei, eine farbige Revolution zu verwirklichen, und sie deshalb weitermachen würden und die Menschen noch stärker behindern und Straßen blockieren würden, wie es bereits in Belgrad, Novi Sad und anderen Städten Serbiens geschehen sei. Der Politiker betonte:
"In Serbien wird es keine Diktatur der Straße geben. Die Macht in Serbien wird nicht an diejenigen fallen, die den Sturm auf staatliche Einrichtungen gutheißen."
Im Großen und Ganzen ist die Lage in Belgrad bereits unter Kontrolle, die Barrikaden wurden geräumt, der Verkehr wiederhergestellt. Das Mindestziel – die Lage in den Städten bis Montagmorgen zu destabilisieren, wenn alle zur Arbeit durch die Barrikaden fahren müssten – wurde nicht erreicht.
Russland hofft, dass die Proteste in Serbien beigelegt werden, erklärte der russische Außenminister Sergei Lawrow. Er äußerte auch die Hoffnung, dass die westlichen Länder diese Situation nicht ausnutzen werden, um "ihre farbigen Revolutionen zu betreiben". Vučić nahm dies als direkte Unterstützung Moskaus wahr.
Natürlich gab es in den vergangenen Jahren in Belgrad auch schon ernstere Zusammenstöße als die, die sich am diesjährigen Veitstag ereignet haben. Allerdings sind die "Studentenproteste" eines der Ergebnisse äußerer Einmischung. Und wenn die Studenten vorgezogene Wahlen fordern, wäre das für Vučić vielleicht gar keine so schlechte Option. Er hat nach wie vor gute Chancen, diese Wahlen erneut zu gewinnen.
Der serbische Präsident befinde sich in einer schwierigen Lage, sagt Entina. Die Expertin meint, dass Vučić nach einiger Zeit den Protestierenden entgegenkommen und vorzeitigen Neuwahlen zustimmen werde. Dies könnte bereits im Herbst geschehen, wenn es ihm gelingen sollte, seine Unterstützerbasis zu stärken.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 30. Juni 2025 zuerst auf der Website der Zeitung Wsgljad erschienen.
Jewgeni Krutikow ist ein Militäranalyst bei der Zeitung Wsgljad.
Mehr zum Thema – Regierungsfeindliche Proteste in Belgrad: verletzte Polizisten und Dutzende Festnahmen