Das kleinere Übel – Polen hat einen neuen Präsidenten


Von Elem Chintsky

Polen hat ein neues Staatsoberhaupt. Der PiS-Kandidat Karol Nawrocki hat sich mit 50,89 Prozent der gesamten Wählerstimmen knapp gegen die von Rafał Trzaskowski erreichten 49,11 Prozent durchsetzen können. Trzaskowski ist der Warschauer Stadtpräsident und war der große Hoffnungsträger von Donald Tusks und Radosław Sikorskis liberaler Bürgerplattform, um die dualistische Machtdynamik in Polen zu konsolidieren.

Im heutigen Nachrichtenfluss können einige Neuigkeiten aber über ihre eigentliche Bedeutung hinweg überschätzt werden. So verhält es sich auch mit dem Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in der Republik Polen. Zum Beispiel twitterte der deutsche freiheitliche Finanzberater und wirtschaftspolitische Kommentator Marc Friedrich zu Nawrockis Wahlsieg:

"Polen hat sich gegen die EU entschieden."


Diese Aussage, auch wenn sie aufrichtig und gut gemeint ist, ist grob übertrieben. Denn seit ihrem Bestehen – gegründet im Jahr 2001 – ist die PiS stets für den Beitritt Polens zur Europäischen Union gewesen.

Auch nach dem Eintritt im Jahr 2004 blieb die Beziehung zu Brüssels supranationalem Politkonstrukt eher gemäßigt bis wohlwollend. Die politischen Erzfeinde der PiS, nämlich die liberale Bürgerplattform von Donald Tusk und ihre linksprogressiven Juniorpartner (die ihm im Dezember 2023 zur knappen Regierungsbildung verhalfen) hatten in vergangenen Jahren im inneren Nationaldiskurs stets die gemäßigten EU-Reformwünsche der PiS als fanatische EU-Feindschaft ausgelegt. Die tatsächlichen Reibungen zwischen den PiS-Regierungen und der EU-Kommission gehen zurück auf den Wunsch, die polnischen Gerichte reformieren zu wollen, sodass sie weniger autonom von der Exekutive sind – und zwar nach deutschem Beispiel, wo sowohl die Judikative als auch Exekutive ein (allzu) symbiotisches Verhältnis pflegen. Ob das dem Ideal einer westlichen, liberalen, staatsrechtlich gründlich funktionierenden Sozialdemokratie gerecht wird – die viel zitierte Teilung der Gewalten – ist eine andere Frage. Aber die BRD lebte das von PiS in Polen Angestrebte selbst bereits in der Praxis ungehindert vor.

Auch die ehemalige CDU-Verteidigungsministerin von der Leyen müsste sich dieses Interessenkonfliktes bewusst gewesen sein, als sie als EU-Kommissionspräsidentin begann das EU-Mitglied Polen für das zu sanktionieren, was die BRD unter Merkel längst in aller Öffentlichkeit praktizierte. Es sei daran erinnert, worum es bei der PiS-Gerichtsreform allgemein ging: Laut der PiS war es ihr anfangs wichtig, die kommunistischen (im deutschen Sprachgebrauch wohl eher "sozialistischen") Richter, welche nach 1989 sehr schnell zu der (von der NATO aufgestülpten) globalistischen Ideologie der liberalen Sozialdemokratie konvertierten und sich samt ihrer Lehrlinge und Nachkommen in den polnischen Gerichten verschanzten, stufenweise aus dem professionellen Verkehr zu ziehen. Man wollte mehr ausführenden Einfluss bei der Berufung neuer Richter haben.

Jedenfalls ist Nawrocki von Jarosław Kaczyński abgesegnet worden, wie vor ihm auch Andrzej Duda (2015–2025). Weder warb Duda vor ihm noch Nawrocki selbst in seiner gerade eben erfolgreich abgeschlossenen Wahlkampagne damit, Warschau von der EU signifikant zu distanzieren oder gar einen Austritt anzustreben. Dass beide Kandidaten beider Volksparteien NATO- und EU-konform sind, berichteten wir bereits zum Auftakt der Wahlkampagne im Dezember 2024.

Um das Wahlergebnis besser zu verstehen, ist eine Analyse des ersten Wahlgangs entscheidend. Dort konnte Trzaskowski mit 31,36 Prozent sogar den ersten Platz belegen. Nawrocki sicherte sich dicht folgend den zweiten Platz mit 29,54 Prozent.

Es sind jedoch der dritte und vierte Platz, die zu denken geben sollten: Die Gründer der paläokonservativen und monarchistischen Partei Konfederacja, der Ökonom Sławomir Mentzen und der Filmregisseur und Polonist Grzegorz Braun.

Der libertär-freiheitliche Konservative Mentzen kam auf 14,81 Prozent der Wählerstimmen. Während der altkatholische Monarchist Grzegorz Braun aufgrund seiner politisch ausgesprochen unkorrekten, rechtskonservativen Positionen auf spektakuläre 6,34 Prozent kommen konnte. Insgesamt hatten beide erzkonservative, EU-feindliche Kandidaten über 21 Prozent, also 4.145.365 Wähler. Solch ein Wahlergebnis ist in der relevanten Geschichte Polens seit 1989 präzedenzlos.

Es folgte Mentzens strategisch platzierter Aufruf über seinen YouTube-Kanal. Darin schlug er vor, in den zu diesem Zeitpunkt verbleibenden zwei Wochen vor der Stichwahl Einzelgespräche mit jeweils Trzaskowski und Nawrocki zu führen, um deren politische Positionen für seine eigene Basis so gut wie möglich herauszukristallisieren. Beide sagten zu. Mentzens Wähler sollten anhand dieser Dialoge selbst festmachen, welcher der beiden Kandidaten tendenziell fähig wäre, sie erneut zur Wahlurne zu bewegen. Dafür bereitete Mentzen eine schriftliche Erklärung vor, die er jeweils Trzaskowski und Nawrocki bat, zu unterzeichnen. Hier die Acht-Punkte-Liste als Übersicht:

  1. Ich werde kein Gesetz unterzeichnen, das bestehende Steuern, Abgaben und Gebühren erhöht oder neue Steuerbelastungen einführt.
  2. Ich werde kein Gesetz unterzeichnen, das den Bargeldverkehr einschränkt, und ich werde den polnischen Złoty beibehalten.
  3. Ich werde kein Gesetz unterzeichnen, das die Freiheit der Meinungsäußerung im Einklang mit der polnischen Verfassung einschränkt.
  4. Ich werde nicht zulassen, dass polnische Soldaten auf ukrainisches Gebiet geschickt werden.
  5. Ich werde kein Gesetz ĂĽber die Ratifizierung des Beitritts der Ukraine zur NATO unterzeichnen.
  6. Ich werde kein Gesetz unterzeichnen, das den freien Zugang der Polen zu Waffen einschränkt.
  7. Ich werde der Übertragung von Zuständigkeiten der Behörden der Republik Polen an die Organe der Europäischen Union nicht zustimmen.
  8. Ich werde keine neuen EU-Verträge ratifizieren, die die Rolle Polens schwächen, z. B. durch eine Schwächung seines Stimmrechts oder die Abschaffung seines Vetorechts.

Nawrocki unterzeichnete diese Erklärung geradezu ohne Einwände – Trzaskowski jedoch nicht. Trzaskowski gestand offen ein, dass er sehr an einem neuen Hassrede-Gesetz interessiert sei und es auch sofort unterschreiben würde – sicher, um dem britischen, deutschen oder kanadischen Beispiel zu folgen. Der Warschauer Stadtpräsident war außerdem für die Aufnahme der Ukraine in die NATO und für eine weitere Demontage polnischer Souveränität zugunsten einer an Befugnissen mächtiger werdenden EU. Nawrocki wurde nach dem Wahlsieg noch einmal öffentlich von Mentzen daran erinnert, dass diese Erklärungsunterzeichnung einen entscheidenden Grund für seinen Wahlsieg und seine Verpflichtung zum neuen Staatsoberhaupt darstellt. Es gilt als sicher, dass Nawrocki ohne die Wähler Mentzens und Brauns den Wahlerfolg nicht hätte verbuchen können.

Hätte stattdessen Mentzen den zweiten oder sogar ersten Platz beim ersten Wahlgang belegt, so hätten sich auch hier sofort, wie im rumänischen Präzedenzfall im November 2024, die Brüsseler Salons zu einer raschen Strategie der Schadensbegrenzung mobilisiert, um den demokratischen Prozess zu torpedieren und "die polnische Demokratie zu retten." Nawrocki hatte aber auch den Segen Donald Trumps. Wenngleich es hinter den Kulissen Versuche gegeben haben soll zu sondieren, inwieweit Brüssel der Warschauer Regierung Tusks und Sikorskis eine Anfechtung der Präsidentschaftswahl ermöglichen könnte, um doch Trzaskowski gewinnen zu lassen. Dies hätte Trump – nach der mahnenden Rede seines Vize Vance auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2025 – wohl strikt vereitelt.

Somit gab es aus dem Koalitionsumfeld von Donald Tusk die üblichen, "demokratischen" Reaktionen. Etwa bedauerte der polnische Sejmmarschall (entspricht dem Posten des Bundestagspräsidenten) Szymon Hołownia das Ergebnis der Wahlen und machte folgenden Vorschlag:

"Vielleicht sollten wir aber in Polen darüber reden, dass der Präsident von der Nationalversammlung gewählt wird."


Statt direkt von den Bürgern? Zumindest würde das die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass der "richtige Kandidat" gewinnt – eine häufige Sorge europäischer Demokraten in der EU. Immerhin besteht die polnische Nationalversammlung aus allen Parlaments- und Senatsmitgliedern, die bei der Parlamentswahl im Oktober 2023 gewählt wurden. So hätte Trzaskowski ohne größere Probleme den Sieg sichern können und die Bürger hätten nicht erneut behelligt werden müssen.

Die optimistische Analyse des politischen Kommentators Michał Krupa enthüllt sogar eine Chance Nawrockis, sich als selbstständiges Staatsoberhaupt durchzusetzen:

"Der gewählte Präsident Karol Nawrocki hat das Potenzial, ein unabhängigerer Akteur zu werden, als viele annehmen. Obwohl er aus der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) kommt, entspricht sein Profil nicht dem typischen Modell eines loyalen Vollstreckers von Jarosław Kaczyńskis Willen. Der entscheidende Test: Wird er die Linie der strikten Abhängigkeit von Nowogrodzka fortsetzen, oder wird er eher, wie einige vorschlagen, seine eigene fachliche und institutionelle Basis im Präsidentenpalast aufbauen, frei von der Last der Partei. Eine mögliche Kurskorrektur in der Außenpolitik ist erwähnenswert. Bündnisse mit Führern, die eine realistische Einstellung zu Russland haben – Orbán, Fico, Simion, die AfD oder Trump – könnten den anti-russischen Radikalismus bremsen, der den Interessen Polens nicht dient. Das bedeutet keine 'pro-russische' Wende, sondern eine Abkehr von ideologischer Hysterie hin zu einer kühlen Interessenabwägung. In einer Region, die Gleichgewicht und Frieden braucht, könnte dies eine erfrischende Abwechslung sein. Die Erklärung, den Beitritt der Ukraine zur NATO und zur EU einzufrieren, ist ein gutes Signal. Hoffen wir, dass es nicht nur Show ist.

Wenn Nawrocki sich tatsächlich mit Experten und nicht mit Parteifunktionären umgibt (z.B. General Boguslaw Samol an der Spitze des Nationalen Sicherheitsbüros) und seine Agenda auf den Interessen des Staates und nicht der Partei basiert, steht uns eine interessantere und nuanciertere Präsidentschaft bevor, als manche vielleicht denken."

Der polnische Experte Krupa ist oft zu Gast bei dem unabhängigen US-Medium Redacted und zeichnet sich durch eine vernünftige realpolitische Auslegung geopolitischer Prozesse in Osteuropa sowie Polen selbst aus, die er einem englischsprachigen Publikum näherbringt. Krupas Erwartungshaltung zu Nawrocki aber hätte dieser Autor eher einem zum Präsidenten gewählten Mentzen zugetraut – beziehungsweise einem Grzegorz Braun. Beide repräsentieren generell die Staatsräson eines Roman Dmowski (1864–1939): eine erhöhte Skepsis gegenüber dem westlichen Nachbarn Deutschland und eine kompromiss- und harmoniebereite Einstellung zu Russland, die damals manchmal sogar an einen Panslawismus erinnerte. Hinzu kommt, dass in der Russischen Föderation seit Februar 2024 gegen Nawrocki gefahndet wird. Dieser hatte nämlich noch in seiner Position als Leiter des Instituts für Nationales Gedenken (IPN) veranlasst, Sowjetdenkmäler auf polnischem Gebiet abzureißen. Dies wurde zu einem geschichtsrevisionistischen Trend in Polen, der die ohnehin mittelmäßigen bilateralen Beziehungen der beiden Länder noch zusätzlich belastete. Behält Krupa Recht mit einem möglichen, wenn auch pragmatischen Tauwetter zwischen Warschau und Moskau, so wäre es keine banale Angelegenheit für Nawrocki, die russische Seite (inmitten eines seitens des NATO-geführten Kiewer Regimes immer weiter eskalierenden Ukraine-Krieges) von einer neuen diplomatischen Aufrichtigkeit zu überzeugen.

Die PiS gilt historisch zwar als relativ misstrauisch gegenüber Berlin, aber in diesem Aspekt muss nicht unbedingt von Nawrocki erwartet werden, die Parteilinie widerspruchslos zu übernehmen. Dennoch werden Tusk und sein politisches Umfeld in Polen – also die derzeitige Regierungskoalition – vom PiS-Establishment stets als "deutsche Agenten" dargestellt, die die polnischen Interessen nicht vertreten. Mit der stark sozialdemokratisch und liberal geprägten Merz-Regierung in Berlin kann davon ausgegangen werden, dass der rechtskonservative Nawrocki von einem allzu engen Kurs absehen wird. Wäre Nawrocki außerdem verleitet, die acht Punkte Mentzens besonders aufrichtig und motiviert zu befolgen, wären mit Sicherheit fundamentale Konflikte mit Brüssel in den kommenden fünf Amtsjahren vorprogrammiert.

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprĂĽnglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt auĂźerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.

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