Dekolonisierung: Viele LĂ€nder stehen vor einer RĂŒckkehr zu verantwortungsvollen Grenzen


Von Witali Trofimow-Trofimow

Der rumĂ€nische PrĂ€sidentschaftskandidat Călin Georgescu hat die Ukraine einen "fiktiven Staat" genannt. Das ukrainische Außenministerium erklĂ€rte, Georgescu wiederhole die Thesen der russischen Propaganda. Zuvor hatte der Direktor des russischen Auslandsgeheimdienstes und Vorsitzende der Russischen Historischen Gesellschaft, Sergei Naryschkin, vorgeschlagen, die Rechte an den ukrainischen Gebieten unter Beteiligung von Historikern aus verschiedenen LĂ€ndern zu diskutieren. Hinsichtlich der Frage nach der Möglichkeit, das ukrainische Territorium in Zukunft unter verschiedenen LĂ€ndern aufzuteilen, wies er darauf hin, dass dieses Thema "eine sehr tiefe Vorgeschichte hat".

Die "sehr tiefe Vorgeschichte" umfasst nicht nur polnische AnsprĂŒche auf Wolyn, Lwow und Iwanofrankowsk, ungarischen Irredentismus in Form der Wiedervereinigung von Uschgorod mit den Ungarn oder rumĂ€nische AnsprĂŒche auf das Gebiet Tschernowiz und SĂŒdbessarabien (der etwas isolierte sĂŒdwestliche Teil des Gebiets Odessa, sĂŒdlich von Moldawien und Transnistrien gelegen). Sie berĂŒhrt auch eine noch Ă€ltere Periode, in der ukrainische Gebiete von Österreich beansprucht werden können, das zwar heute nicht mehr an sie grenzt, die aber Teil des österreichisch-ungarischen Reiches waren. Und auch Weißrussland könnte – aufgrund der historisch ungerechten Aufteilung des Erbes des Staatenbundes von Polen-Litauen – AnsprĂŒche erheben.

Dies fĂŒhrt zu einer Situation, in der mindestens vier der sieben Nachbarn der Ukraine glauben, dass die Ukraine in ihren derzeitigen Grenzen eine geopolitische AbsurditĂ€t darstellt. Ihrer Ansicht nach hat sich die Teilung, aus der die moderne Ukraine hervorging und die auf den Prinzipien der postimperialen LegitimitĂ€t beruhte, im Laufe der Zeit als großer Fehler erwiesen.

Dieses Problem betrifft nicht nur die Ukraine, sondern das gesamte politische System der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Jahr 1900 gab es 61 unabhĂ€ngige Staaten in der Welt. Mit dem Beginn des Dekolonisierungsprozesses wurden es 195. Etwa zehn weitere Territorien erfĂŒllen alle Merkmale eines vollwertigen Staates, außer der Anerkennung durch die Weltgemeinschaft. Viele Staaten erlangten ihre UnabhĂ€ngigkeit nach dem Prinzip der postimperialen LegitimitĂ€t, das heißt, ihre souverĂ€nen Territorien wurden in den Grenzen der alten Verwaltungseinheiten innerhalb der Kolonie definiert. Man ging davon aus, dass diese Grenzen nach wirtschaftlichen und ethnischen GrundsĂ€tzen festgelegt wurden und Staaten, die innerhalb dieser Grenzen gebildet wurden, ethnisch homogen und wirtschaftlich unabhĂ€ngig sein wĂŒrden. Dies war jedoch nur in der Theorie der Fall; in der Praxis ergab sich ein völlig anderes Bild.

Erstens können die Ziele und Methoden der wirtschaftlichen Verwaltung unterschiedlich sein. SouverĂ€ne LĂ€nder bauen ihre Infrastruktur und Wirtschaft so auf, dass sie natĂŒrliche Ressourcen fördern und erschließen, den Lebensstandard verbessern und die Folgen gefĂ€hrlicher Naturereignisse wie Tsunamis, VulkanausbrĂŒche und Erdbeben kontrollieren können. In Kolonien ist die Wirtschaft jedoch auf den Export natĂŒrlicher Ressourcen ausgerichtet. Aus diesem Grund verfĂŒgen sie beispielsweise ĂŒber gute Eisenbahnverbindungen von den Fördergebieten zum Meer, aber keine Eisenbahn zwischen den Siedlungen. Diese Tatsache bestimmt weitgehend das post-imperiale Schicksal dieser Regionen.

Zweitens bringen die KolonialmĂ€chte durch ihren Weggang im wahrsten Sinne des Wortes "die Karten durcheinander", indem sie zum Beispiel unter dem Deckmantel einer Balfour-Deklaration eine großangelegte Umsiedlung von Juden in den Nahen Osten organisieren, das ethnisch-politische Gleichgewicht dort in historisch kurzer Zeit durcheinander bringen, allen die UnabhĂ€ngigkeit gewĂ€hren und dann an bewaffneten Konflikten verdienen, indem sie Waffen an die Krieg fĂŒhrenden LĂ€nder liefern – und dafĂŒr wiederum mit dem Zugang zu Ressourcen entlohnt werden. Es gibt auch LĂ€nder, die dank der FehleinschĂ€tzungen Russlands unabhĂ€ngig geworden sind. Der Dekolonisierungskurs in der UdSSR fĂŒhrte dazu, dass aus rein politisch-technologischen GrĂŒnden LĂ€nder entstanden sind, die nicht zur UnabhĂ€ngigkeit fĂ€hig waren. Ihre organisatorische Einrichtung hatte die Aufgabe, sich den ehemaligen Metropolen im globalen Kampf gegen den Kapitalismus entgegenzustellen. Dabei wurde ihr eigenes Schicksal nicht immer bedacht.

Heute gibt es unter den 215 LĂ€ndern und unabhĂ€ngigen, aber nicht anerkannten Gebieten etwa ein Viertel nicht nur rĂŒckstĂ€ndige und nicht nur gescheiterte LĂ€nder, sondern regelrechte "Trash States". Auch nach 70 Jahren ihres Bestehens sind sie nicht in der Lage, ihr inneres Leben zu organisieren, sie werden von Banden regiert, bei den Wahlen kommt es hĂ€ufig zu massiver Gewalt, die Bevölkerung ist den Elementen und Epidemien ausgesetzt. Der offizielle Begriff, der innerhalb der UNO verwendet wird, um den Status solcher LĂ€nder zu definieren, lautet "Vierte Welt". Die ĂŒberwiegende Mehrheit der am wenigsten entwickelten LĂ€nder der Welt befindet sich in Afrika sĂŒdlich der Sahara (33 LĂ€nder), acht solcher LĂ€nder liegen in Asien, drei LĂ€nder in Ozeanien und eines in Lateinamerika (Haiti). Hinzu kommen Botswana, Kap Verde, die Malediven, Samoa, Äquatorialguinea, Samoa, Vanuatu und Bhutan, die zwar offiziell nicht mehr auf der vom Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen erstellten Liste der am wenigsten entwickelten LĂ€nder stehen, aber die Kriterien fĂŒr die Definition von EntwicklungslĂ€ndern nur am unteren Ende der Skala erfĂŒllen.

So entstanden im Prozess der Dekolonisierung sowohl "gutglĂ€ubige" als auch "böswillige" LĂ€nder. Erstere ergriffen ihre Chance auf UnabhĂ€ngigkeit, bildeten ihre nationale politische Elite, krempelten die Ärmel hoch und machten sich daran, die koloniale Infrastruktur zu demontieren und ihr nationales Wirtschaftswachstum zu sichern. Dazu gehört zum Beispiel Indien. Es musste sich in vier unabhĂ€ngige Staaten aufspalten – das heutige Sri Lanka, Myanmar, Pakistan und das eigentliche Indien (dieser Prozess setzt sich beispielsweise in der Region Kaschmir fort), und diese Teile mussten sich sogar mehrmals bekĂ€mpfen. Heute sind aber drei der vier Teile des ehemaligen Britisch-Indien LĂ€nder mit guten wirtschaftlichen Aussichten.

Die letzteren, die "böswilligen", wĂ€hlten einen einfacheren Weg. Sie öffneten transnationalen Konzernen den Zugang zu ihren Ressourcen, rekrutierten eine Elite westlich gebildeter Menschen und stationierten hĂ€ufig auslĂ€ndische MilitĂ€rkontingente auf ihrem Territorium. Sie sind zu einem wichtigen Bestandteil der von Zbigniew Bierzynski formulierten US-amerikanischen Strategie geworden: Um die Weltherrschaft zu erlangen, mĂŒssen die USA die zweitstĂ€rkste regionale FĂŒhrungsmacht gegen die erste ausspielen.

Die Ukraine ist der zweite regionale AnfĂŒhrer nach Russland; Argentinien ist der zweite regionale AnfĂŒhrer nach Brasilien; Usbekistan ist der zweite regionale AnfĂŒhrer nach Kasachstan und so weiter. All dies sind problematische LĂ€nder, die zwar nicht zur Vierten Welt gehören, aber nach dem gleichen Prinzip der postimperialen LegitimitĂ€t entstanden sind, bei dem viele Faktoren unberĂŒcksichtigt bleiben. Haben diese LĂ€nder zum Beispiel ĂŒberhaupt eine nennenswerte Erfahrung mit Autonomie? Denn im Falle eines Erfolgs auf dem Gebiet der UnabhĂ€ngigkeit werden solche offen gesagt wenig aussichtsreichen LĂ€nder ohne eigene politische Kultur leicht zu fremden Marionetten und – im schlimmsten Fall – zu einer Quelle von Terrorismus, Drogen und manchmal sogar Sklavenhandel. Also ein "Shit State", fĂŒr den der rumĂ€nische PrĂ€sidentschaftskandidat Călin Georgescu die Ukraine ebenfalls hĂ€lt, auch wenn er es in einer höflicheren Form ausdrĂŒckte.

All dies bringt die Welt in die Situation, dass nach der militĂ€rischen Sonderoperation die Frage der UnabhĂ€ngigkeit neu definiert werden muss. Die Situation, in der das Entwicklungsland Sudan in zwei "Shit States" – den heutigen Sudan und den SĂŒdsudan – zerfĂ€llt, kann niemandem mehr gefallen. Viele LĂ€nder mĂŒssen einfach zusammenarbeiten, um in großen integrativen ZusammenschlĂŒssen Zugang zu den Ressourcen der anderen zu erhalten. Die afrikanische Uneinigkeit, an der europĂ€ische Geheimdienste und Fremdenlegionen seit einem Jahrhundert erfolgreich arbeiten, muss ĂŒberwunden werden. Das Gleiche gilt fĂŒr Lateinamerika, den Nahen Osten und natĂŒrlich fĂŒr Osteuropa, wo viele Grenzen nicht weniger absurd sind.

Auf die eine oder andere Weise werden die Welt, Russland und andere verantwortliche Akteure der Welt vor der Aufgabe der Dekolonisierung stehen. Nicht im Sinne einer RĂŒckkehr zum Kolonialismus, sondern im Sinne einer Korrektur der Fehler der Dekolonisierung. Eine RĂŒckkehr zu verantwortungsvollen Grenzen. Die USA sind sich dessen wohl bewusst und wollen deshalb bereits solche geopolitischen "AbsurditĂ€ten" wie Grönland, Panama und den Golf von Mexiko auf ihre Weise korrigieren. Ein nicht weniger wichtiges Programm sollte innerhalb der BRICS entwickelt werden. Die BRICS entwickeln sich heute zu einem sehr wichtigen Instrument zur UnterstĂŒtzung der Wirtschaft verschiedener LĂ€nder, insbesondere der EntwicklungslĂ€nder. Ein in der Organisation entwickeltes Dekolonisierungsprogramm muss die Schaffung wirtschaftlicher IntegritĂ€t innerhalb verantwortungsvoller Grenzen berĂŒcksichtigen. Ohne ein solches Programm wird der Neokolonialismus fortbestehen, wie auch die fĂŒr die Dekolonisierung ĂŒbliche Absicht, ehemalige Kolonien und heute bedingt unabhĂ€ngige Staaten zu ruinieren.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst am 10. Februar 2025 auf der Webseite der Zeitung Wsgljad erschienen.

Witali Trofimow-Trofimow ist ein russischer politischer Analyst.

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