Landrat Hanke zum Seelower Gedenken: Es ist die Grundform des zivilisatorischen Umgangs


Als Lokalpolitiker stand der stellvertretende Landrat von Märkisch-Oderland, Friedemann Hanke, ab Anfang April im Zentrum einer geschichtspolitischen Debatte.

Gemeinsam mit dem Bürgermeister der Stadt Seelow, Robert Nitz, (Interview mit ihm s. hier), sollte er den dringenden Wunsch des Außenministeriums ausführen, russische und weißrussische Diplomaten von der Gedenkstätte an den Seelower Höhen fernzuhalten. Notfalls sogar mit Polizeigewalt. Das hat er nicht getan und nahm an den Gedenkveranstaltungen – wie von früher gewohnt – zusammen mit dem russischen Botschafter Sergej J. Netschajew teil.

In der heutigen Zeit ist seine Position alles andere als ĂĽblich. Im Gegenteil: Sein Beharren auf etablierte diplomatische Umgangsformen grenzt fast schon an Widerstand. Dem Korrespondenten Wladislaw Sankin gelang es, den Vertreter dieser ostdeutschen Region zum "Kalten Krieg" und seinen Erinnerungen zu befragen.

Sankin: Angesichts der kontrovers geführten Diskussion in der Presse in den vergangenen Wochen bezüglich der Teilnahme des russischen Botschafters am Seelower Gedenken – haben Sie das Gefühl, sich politisch auf dünnem Eis zu bewegen? Oder ist es so, Sie machen einfach Ihren Job und haben keinerlei politische Schwierigkeiten?

Hanke: Letzteres. Wir sehen das dünne Eis nicht, wir spüren es auch nicht. Es sind doch zwei Sachen. Erstens ist es so, wir machen keine Außenpolitik, wir sind nur untere Verwaltungsebene. Wir haben nur die Grundform menschlichen Miteinanders einzuhalten. Und das ist genau die Frage: Wie gehe ich mit dem höchsten Repräsentanten eines Landes um? Das ist das, was wir hier bemühen. Und auch die Frage, wessen gedenken wir hier. Die Frage zur politischen Aktualität, das ist nicht das, was wir beurteilen, und das ist auch nicht das, was heute hier Gegenstand ist. Und deshalb sehen wir das dünne Eis nicht.

Wir halten es wirklich für eine Frage des zivilisatorischen Umgangs, dass wir mit Vertretern, dem höchsten Vertreter eines großen Landes, dass wir ihn auch gebührend empfangen – selbstverständlich. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Und hinzukommt, dass wir gerade mit Herrn Botschafter Netschajew über die letzten Jahre doch sehr eng verbunden sind, gerade über die Kriegsgräber, und alles, was mit der Schlacht zusammenhängt, sind wir in sehr engem Austausch und sind ihm deshalb auch persönlich natürlich sehr verbunden.

Sankin: Dieser Ausladungsversuch, ich meine jetzt die Handreichung vonseiten des Auswärtigen Amtes, und auch die Kampagnen in der Presse haben für Aufregung in Russland gesorgt. Haben Sie Verständnis dafür?

Hanke: Ja, ich will Ihnen ehrlicherweise sogar sagen: Ich kann beides verstehen. Es ist eben deutlich, in welchem Kriegszustand sich auch Russland befindet. Und da kann ich verstehen, dass auch von deutscher Seite nicht groß gesagt wird: "Na, wir machen gemeinsame Veranstaltungen." Es ist aber bei "80 Jahren Kriegsende" was anderes. Hier ist tatsächlich – das muss man auch deutlich sagen – Europa vom deutschen Nationalsozialismus befreit worden und es haben Menschen hier ihr Leben gelassen. Zu Zehntausenden – drei Wochen, bevor der Krieg zu Ende war. Drei Wochen quasi haben die Menschen getrennt vom Überleben. Und das muss man einfach würdigen. Das ist so, und darum geht es.

Und ich glaube, dass in unserer heutigen Zeit häufig Schwarz oder Weiß (gilt). Aber die Welt ist ja nicht schwarz oder weiß. Und nur weil wir ein würdiges Gedenken (veranstalten) und ihn empfangen, Herrn Netschajew, heißt es ja nicht, dass wir das Handeln Russlands gutheißen. Und was doch nottut in unserer Zeit ist wirklich wieder eine Differenzierung. Also zu sagen: Die Welt ist grau. Es gibt nicht das nur Gute, das nur Böse, sondern es ist eine Mischung, und das fehlt. Und es fehlt auch aus meiner Sicht in unserer Außenpolitik, und da bleibe ich dabei: Es ist eine Frage des zivilisatorischen Umgangs, dass man natürlich Botschafter eines Landes entsprechend empfängt.

Sankin: Es gibt Vorwürfe, zum Beispiel von der Zeitschrift "Osteuropa", also von mehr oder weniger offiziellen Stellen, dass Russland dieses Gedenken nicht nur instrumentalisiere, sondern sogar an sich ziehe, ohne Berücksichtigung der anderen Sowjetrepubliken oder Ethnien. Russland stelle sich ins Zentrum. Tatsächlich stand heute der russische Botschafter im Zentrum der Aufmerksamkeit, andererseits gab es keinerlei Animositäten, zum Beispiel von der kasachischen Seite. Was ist Ihre Einschätzung? Vereinnahmt Russland das Gedenken, oder nicht?

Hanke: Schwer zu beantworten. Ja und nein (lacht). Also grundsätzlich ja. Es war auch Russland die einzige Nation, die sich in der Tradition der Sowjetunion gesehen hat. Es war nach 1990 kein anderes Land, was (sich) in dieser Tradition gesehen hat.

Sankin: Und WeiĂźrussland auch.

Hanke: Weißrussland auch. Aber ansonsten (gilt) für die anderen Länder: Die sind nicht in diese Tradition eingestiegen. Man muss natürlich klar sagen: Russland war auch seinerzeit der Hegemon und war natürlich auch der Hegemon innerhalb der Sowjetunion. Da brauchen wir nicht darüber reden. Insofern hier sind sie, da haben sie diese Rolle auch angenommen und natürlich auch das Gedenken geprägt. Das ist nicht ganz falsch.

Das ist dann übrigens auch Aufgabe aller anderen Nachfolgestaaten, ihre eigene Form des Gedenkens zu suchen. Und natürlich ist hier dann eine Prägung durch die russische Seite da, das ist nicht vermeidbar. Es ist auch tatsächlich (so), die Hauptlast ist ja durch russische Soldaten – wenn man denn die Nationalität da ansetzen will – getragen worden. Das sei zum einen gesagt.

Und zur Frage (der) Instrumentalisierung: Natürlich passiert das, das ist ja klar. Es wird jedes Land versuchen, bestimmte geschichtliche Themen auch in seine Erzählung hineinzusetzen. Da kann ich aber nichts daran ändern. Und ich will deutlich sagen: Ich teile sicherlich nicht die russische Geschichtsschreibung und die politische Gegenwartsbeschreibung. Aber das ist eine Sache, die muss Russland mit sich ausmachen. Das steht mir nicht zu, das öffentlich zu beurteilen. Und insofern hat Russland etwa das Erbe auch angetreten und prägt es auch. Aber auch da: Wir haben heute ja gesehen, in welcher Zurückhaltung der Botschafter agiert hat. Das war ja mitnichten ausschließend.

Sankin: Die ukrainische Sowjetrepublik hat während des Großen Vaterländischen Krieges die zweitgrößte Last getragen. Und dennoch fehlen heute – und schon seit Jahren – die ukrainischen Vertreter bei solchen Gedenkveranstaltungen. Die Ukraine schafft ihre eigene Gedenkkultur und deutet die Geschichte komplett um. Würden Sie sich wünschen, dass die Ukraine sich an einem solchen Gedenken, wie es heute stattgefunden hat, wieder beteiligt?

Hanke: Grundsätzlich schon, aber ich will auch klar sagen: Ich kann die Ukraine verstehen.

Sankin: Das war aber noch vor dem Krieg, dieser Diskurs.

Hanke: Da wird man noch mal ansetzen müssen, aber aktuell haben wir jetzt sozusagen den Krieg, wo ich das eben der Ukraine nicht zumuten würde wollen. Also das kann ich auch aus ukrainischer Sicht verstehen, wenn man sagt: Das machen wir nicht. Davor ist es sicherlich so, dass man sich auch zurückgelehnt hat, weil Russland das ja macht. Und insofern: Natürlich wäre das wünschenswert, so wie Sie sagen. Die Sowjetunion ist ein Vielvölkerstaat gewesen, und es sind viele, die dort natürlich auch ihr Leben gelassen haben. Da bin ich völlig bei Ihnen.

Sankin: Diese Befreiungsroute wurde heute hier eingeweiht an den Seelower Höhen, das Museum und zehn andere Stationen auch peu à peu. Das war in Kamenz der Fall – noch vor ein paar Monaten.

Hanke: Genau!

Sankin: Dass die polnischen Vertreter und die russische Seite heute einander begrüßt haben, kann man angesichts der heutigen geopolitischen Lage fast als sensationell bewerten. Sie haben die Befreiungsroute in ihrer Ansprache ein integratives Projekt genannt, das von der EU gefördert wird. Der russische Botschafter hat dieses Projekt hier mit eingeweiht, das heißt, Russland ist mit an Bord. Sehen Sie die Möglichkeit, dass dieses integrative Projekt in der Gedenkpolitik ein Keim für eine in der Zukunft denkbare geopolitische Zusammenarbeit sein könnte? Mit Europa und Russland?

Hanke: Es ist schwer vorstellbar für die Zukunft, aber der Keim ist es wahrscheinlich. Natürlich, also gerade, wie Sie sagten: Dass es möglich war, auch von polnischen Vertretern, in den Austausch zu treten, das ist schon besonders. Und da sind ja auch über 2000 polnische Soldaten gefallen und insofern trägt es den Keim ja ganz sicher. Aber der Keim kann halt nur da aufgehen, wo er eben in der Erinnerung an das Gemeinsame besteht. Und das funktioniert nur, wenn man die aktuelle Lage tatsächlich einen Schritt zurücktreten lässt. Und das ist – glaube ich – die einzige Chance, weil – da bin ich mir sicherlich auch mit dem polnischen Vertreter einig, was die aktuelle Einschätzung russischen Handelns betrifft. Aber die Zukunft wird in dem Keim der gemeinsamen Befreiung liegen, und da ist (es) auch ganz logisch, dass Russland dort Teil ist, denn diese Befreiung ist durch Russland passiert – zumindest, was Ostmittel(europa betrifft). Ansonsten ja von den Westalliierten. Die ist von Russland in der Hauptlast, von der Sowjetunion in der Hauptlast getragen worden, ja, selbstverständlich. Und insofern ist (Russland) ja auch Teil – da ist eher Deutschland, das muss man ja auch sagen, sind wir doch eher die, die sich zurückzunehmen haben, weil der Krieg von uns ausgegangen ist.

Sankin: "Tag der Befreiung", dieser Begriff dürfte hier in Seelow unbestritten sein, und viele Menschen fühlen das auch so. Aber es gibt auch viele Deutsche, die diesen Tag nicht als Tag der Befreiung sehen – angesichts der deutschen Opfer und vor allem derjenigen, die der Roten Armee zum Opfer fielen. Auf dem Weg nach Berlin, da sind auch Verbrechen begangen worden. Das ist heutzutage ein großes Thema in den Medien. Man könnte sogar den Verdacht hegen, dass durch die Betonung der deutschen Opfer die Leistungen der Roten Armee überschattet werden sollen. Welche Form des Gedenkens ist zukunftsweisend? Was für eine Art des Gedenkens ist für die verletzte deutsche Seele akzeptabel?

Hanke: Ich bin da gar nicht so pessimistisch, und zwar, weil die Zeit für uns arbeitet. Es gibt nur noch ganz wenige Zeitzeugen. Und natürlich, auch das, das muss man auch klar sagen, dass sozusagen von der deutschen Seite das nicht als – oder nur von ganz wenigen – als Befreiung empfunden wurde, das ist ja ganz verständlich. Das, was du sozusagen erlebt hast, das System, woran du geglaubt hast, was du getragen hast, ist untergegangen. Es sind ja nicht die Faschisten oben, sondern es ist ja ein ganzes Volk gewesen, was das mitgetragen hat. Und dass das nicht als Befreiung erlebt wurde, seinerzeit, gar keine Frage. Das ist – glaube ich – nachvollziehbar, plus die Fragen halt (zu) Vergewaltigung, Verbrechen et cetera. Unabhängig davon hat ja Deutschland sehr viel schlimmer in der Sowjetunion gewütet.

Aber dass es von der örtlichen Bevölkerung anders wahrgenommen wurde, das ist ganz klar, aber da arbeitet die Zeit für uns, weil das natürlich verblasst. Und wir doch nochmal, je länger, je mehr Jahrzehnte vergehen, umso mehr kann zurückschauen und sagen: Ja, es ist eine Befreiung gewesen, von einer Diktatur. Und wir müssen doch nicht drum herumreden, es ist doch eine Diktatur, es ist ja auch der Stalinismus eine Diktatur gewesen. Es ist nicht die Freiheit gebracht worden, aber es ist die Freiheit vom Nationalsozialismus erkämpft worden, und insofern glaube ich, dass diese Debatten sich erledigen, weil einfach in der Gesamtschau man sagen kann: Ja, es ist letztendlich eine Befreiung gewesen.

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