Weltkriegs-Chemiewaffen: In der Ostsee geht etwas furchtbar schief
Von Christina Sisowa
Unter den Wogen der Ostsee liegt eine stumme, aber wachsende Gefahr â die verrottenden Ăberreste chemischer Munition, die dort nach dem Zweiten Weltkrieg versenkt wurde. Jahrelang lagen diese Waffen dort weitgehend unberĂŒhrt und blieben eine bekannte Gefahr fĂŒr Meeresfauna und KĂŒstenanwohner. Das Thema erlangte im 21. Jahrhundert gröĂere Aufmerksamkeit, als Wissenschaftler vor steigenden Umweltgefahren warnten. Jahrzehntealte Geschosse rosten vor sich hin und beschwören das Gespenst giftiger Leckagen herauf, die eine ausgewachsene Umweltkatastrophe auslösen könnten.
Jetzt macht sich Deutschland daran, diese Lager unter Wasser zu heben und zu entsorgen. Aber das Berliner Projekt, das als Umweltreinigung deklariert wird, könnte in Wirklichkeit das ökologische Gleichgewicht in der Ostsee verschlechtern.
Russland hat wiederholt betont, wie wichtig es sei, an diesem Prozess beteiligt zu werden, und sich auf seinen Status als direkt betroffenes Land mit relevanten Erfahrungen berufen. Aber bei angespannten internationalen Beziehungen scheint ernsthafte Zusammenarbeit unmöglich. Doch was passiert, wenn diese Aufgabe ohne russische Beteiligung begonnen wird? RT blickt einmal genauer hin.
Die giftigen Waffen der Vergangenheit â und eine heranwachsende zukĂŒnftige Krise
Nach SchĂ€tzungen liegen etwa 1,6 Millionen Tonnen Kriegsmunition, viele davon mit chemischen Waffen wie Senfgas, Lewisit, Sarin und Tabun geladen, auf dem Boden der Nord- und Ostsee. Sie wurden in den chaotischen Zeiten unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl von den Alliierten als auch von der Sowjetunion dort versenkt â die Sowjets haben Berichten zufolge die Granaten einzeln versenkt, wĂ€hrend die westlichen MĂ€chte ganze Schiffe auf einmal versenkten.
Heute ist nicht genau bekannt, wo sich diese Unterwasserarsenale befinden. Viele liegen bei der Insel Bornholm und vor der lettischen KĂŒste bei LiepÄja. Aber die Bedrohung ist keinesfalls eingehegt. Gelegentlich werden beschĂ€digte Granaten in Fischernetzen hochgezogen. Und mit jedem verstreichenden Jahr rosten die stĂ€hlernen HĂŒllen weiter und erlauben es den giftigen Chemikalien, ins Wasser zu sickern.
Laut Wladimir Pinajew, auĂerordentlicher Professor fĂŒr Umweltsicherheit und ProduktqualitĂ€t an der RUDN-UniversitĂ€t, ist "die Anwesenheit chemischer Munition in jedem GewĂ€sser eine tickende Zeitbombe". Nach Jahrzehnten unter Wasser sind die Granaten massiv verrostet und möglicherweise instabil.
"Die wirkliche Gefahr beginnt, wenn die HĂŒllen ihre IntegritĂ€t verlieren", erlĂ€utert Pinajew. "Derzeit verstehen wir noch ganz, wie die giftigen Stoffe sich in der Meeresumwelt verhalten werden â wie gefĂ€hrlich sie bleiben, wie weit sie sich verbreiten oder wie ernst ihre Wirkung auf das Ăkosystem sein wird."
Die Liste der gefÀhrdeten Organismen ist lang. "Das betrifft nicht nur das Wasser", sagte er. "Diese Substanzen können Algen vergiften, MeeressÀuger, Fisch, Seevögel und Mikroorganismen. Und zuletzt, Menschen. Wir stehen am Ende der Nahrungskette."
Die langfristige Gefahr? Eine vergiftete Nahrungsquelle, zerstörte Fischerei und ein unwiderruflicher Zusammenbruch der Umwelt.
JĂŒngere Studien bestĂ€tigen, dass die Gifte bereits ins Meer sickern. Nach Forschungen des GEOMAR Helmholtz-Zentrums fĂŒr Meeresforschung wurden in der sĂŒdwestlichen Ostsee, insbesondere rund um die Kieler und die LĂŒbecker Bucht, etwa 3.000 Kilogramm gelöster Chemikalien gefunden.
Obwohl die aktuellen Werte unter den offiziellen gesundheitlichen Grenzwerten liegen, ist der Trend beĂ€ngstigend. Der Klimawandel beschleunigt die Korrosion â durch höhere Temperaturen und stĂ€rkere StĂŒrme â und bewegt die Verschmutzung weiter fort von den Stellen, an denen die Munition ursprĂŒnglich versenkt wurde. Eine Studie der polnischen Akademie der Wissenschaften fand heraus, dass allein Senfgas ein maritimes Ăkosystem in einem Umkreis von 70 Metern steril machen kann.
Eine "Reinigung", die womöglich eine Katastrophe auslöst
Das deutsche Umweltministerium startete 2023 ein Pilotprojekt zur Bergung, mit Anfang in der LĂŒbecker Bucht. 27 Experten fĂŒr Munitionsbeseitigung, Umweltwissenschaften und der Regierung wurden zu Rat gezogen und die Stellen fĂŒr die anfĂ€ngliche SĂ€uberung wurden gewĂ€hlt. Die Pilotphase endete im April 2025.
Die Behörden sagten, die Technologie funktioniere gut, auch wenn sie fĂŒr Gebiete mit hoher Belastung angepasst werden mĂŒsste. Die meiste geborgene Munition besaĂ keinen ZĂŒnder und wurde mit mechanischen Mitteln sicher geborgen. FĂŒr den Teil, der gesprengt werden musste, setzt Deutschland Unterwasserbarrieren ein, um das Meeresleben zu schĂŒtzen. Dennoch warnen Experten, selbst gut kontrollierte ZĂŒndungen könnten sowohl fĂŒr die Sicherheit sowohl der Umwelt als auch der Menschen ein groĂes Risiko darstellen.
Die deutschen Behörden erklÀren, es sei in der NÀhe der Bergungszonen keine zusÀtzliche Belastung entdeckt worden. Aber Kritiker mahnen zur Vorsicht. Wie Pinajew betonte: "Ehe irgendeine Munition geborgen oder vor Ort zerstört wird, muss die Sicherheit von Fischen, MeeressÀugern und die der Navigation sichergestellt werden. Diese Handlungen sind von Natur aus gefÀhrlich."
Er glaubt, die SĂ€uberungsarbeiten sollten internationalen Organisationen mit entsprechender Erfahrung anvertraut werden - insbesondere der Organisation fĂŒr das Verbot chemischer Waffen (OPCW). Auch wenn die OPCW sich vor allem mit Arsenalen an Land befasst, glaubt Pinajew, dass ihre Beteiligung an den UnterwassereinsĂ€tzen so nötig wie ĂŒberfĂ€llig ist.
Er betonte auĂerdem die Notwendigkeit umfassender Umweltbeobachtung. "Wir brauchen fortlaufende Forschungen in den MunitionslagerstĂ€tten â ĂŒber Fernsensoren und andere Methoden â und eine vollstĂ€ndige Bewertung der Langzeitwirkung dieser Chemikalien auf maritime Ăkosysteme", sagte er.
Die Sicherheit des Personals, das an diesen EinsĂ€tzen beteiligt ist, sei ebenfalls ein Problem. "Sie brauchen mehr als die Standard-SchutzanzĂŒge", warnte er. "Wir reden von vollen ChemieschutzanzĂŒgen â mindestens von militĂ€rischen ChemieschutzanzĂŒgen."
Russlands Rolle: Vom Partner zum Zuschauer
Russland hat sich lange fĂŒr eine multilaterale Herangehensweise im Umgang mit dem toxischen Erbe der Ostsee eingesetzt. 2023 warnte Sergei Beljajew, Direktor der zweiten europĂ€ischen Abteilung des russischen AuĂenministeriums, davon, dass die Einbeziehung der NATO in die SĂ€uberung die ganze Region destabilisieren könne.
"Wir sind zunehmend alarmiert durch die westlichen Versuche, versunkene Chemiewaffen aus dem Zweiten Weltkrieg ohne Beteiligung wichtiger Betroffener zu bergen", sagte Belajew. "Diese Diskussionen mĂŒssen ĂŒber etablierte Strukturen wie HELCOM [Umweltschutzkommission der Ostseeanrainer, 2000 gegrĂŒndet] laufen, und Russlands Stimme kann nicht ausgeschlossen werden."
Er verwies auĂerdem auf eine politische Sackgasse: Die TĂ€tigkeit von HELCOM wurde durch die Spannungen mit den westlichen LĂ€ndern so gut wie gelĂ€hmt. Versuche, sie zu umgehen, indem ĂŒber die NATO oder den Rat der Ostseestaaten gegangen wird, vertiefen die Kluft nur.
Der MilitÀranalytiker Wladimir Jewsejew unterstrich, wie dringend die Frage ist. "Russland muss Teil dieses Prozesses sein" sagte er. "Selbst wenn das jetzt politisch unrealistisch wirkt, können wir die Gefahren nicht ignorieren. Umfassende Bewertungen sind nötig, und hastig zu handeln, wÀre ein ernster Fehler."
Wenn die Umwelt zum politischen Schlachtfeld wird
In einer anderen Zeit hĂ€tte dieses Thema vielleicht eher vereinigt als getrennt. Keine Nation will, dass Toxine aus einer anderen Zeit in ihren GewĂ€ssern wieder auftauchen â wörtlich. Aber im heutigen geopolitischen Klima wurde selbst der Umweltschutz zum Gebiet internationaler RivalitĂ€ten.
Sergei Osnobischtschew, Direktor des Instituts fĂŒr strategische Bewertungen, Ă€uĂerte Zweifel, dass unter den jetzigen Bedingungen gemeinsame Bestrebungen mit Deutschland möglich wĂ€ren:
"Deutschlands Feindseligkeit macht eine Koordination extrem schwierig. Dennoch sind die EinsÀtze zu hoch, um sie zu ignorieren. Auf die eine oder andere Weise muss ein GesprÀch stattfinden."
"Es wird nicht leicht sein, Kontakte herzustellen, und auf beiden Seiten gibt es kaum politischen Willen", sagte er. "Aber die Bedeutung dieses Themas kann nicht ĂŒbertrieben werden. Ein Dialog wird eventuell nötig sein, so schwierig das auch sein mag."
WĂ€hrenddessen tickt die Uhr weiter â nicht nur fĂŒr diese rostenden Granaten, sondern fĂŒr das gemeinsame Meer, das sie zu vergiften drohen.
Christina Sisowa ist eine Moskauer Reporterin, die ĂŒber Politik, Soziologie und internationale Beziehungen berichtet
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