Theater und Neurose: USA erniedrigen Europa vor aller Augen
Von Fjodor Lukjanow
Donald Trumps Treffen mit den europĂ€ischen Staatschefs im WeiĂen Haus war ein Ă€uĂerst schillerndes Spektakel, das man aus theatralischer Sicht interpretieren kann: Wer trat in welcher Rolle auf und wie gut meisterte er diese? Doch das ist nur die Ă€uĂere Erscheinung. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass der wesentliche Inhalt nicht mit der Ukraine-Krise zusammenhĂ€ngt. Die Versuche, diese Krise zu lösen, dauern an, und es ist schwer zu sagen, wie sie enden werden. Klar ist aber, dass es nichteuropĂ€ische LĂ€nder sein werden, die die finale Konfiguration bestimmen. Dabei trat der Charakter der Beziehungen innerhalb der westlichen Gemeinschaft wĂ€hrend des Gipfeltreffens in vollem Umfang zutage. Und das ist das wichtigste Ergebnis im Hinblick auf die Bewertung kĂŒnftiger politischer Perspektiven.
Aufgrund der Kommunikation der europĂ€ischen FĂŒhrer mit Trump lĂ€sst sich eine Schlussfolgerung ziehen: Europa hat keine politische SubjektivitĂ€t in Beziehungen mit den USA. Alle BemĂŒhungen der Staatschefs der Alten Welt zielen auf die Ausarbeitung einer Verhaltenstaktik ab: Was ist zu tun, damit sich der US-PrĂ€sident ("Papi" in den Worten des NATO-GeneralsekretĂ€rs Mark Rutte) nicht Ă€rgert, in schlechte Laune gerĂ€t und sie bestraft? Das klingt absurd, doch gerade das ist es, was passiert. Und die Quellen melden stolz, welche wertvollen RatschlĂ€ge der britische MinisterprĂ€sident Keir Starmer dem ukrainischen Staatschef Wladimir Selenskij erteilte: was er anziehen soll, wie zu danken ist, welche Worte zu benutzen sind und so weiter.
Sicher sollte "Papis" Persönlichkeit berĂŒcksichtigt werden, doch den Kern Ă€ndert das nicht. Europa ist gezwungen, sich zu drehen und zu winden, um es sich nicht mit den USA zu verscherzen, denn die Alte Welt spĂŒrt plötzlich ihre Ă€uĂerste strategische, politische und wirtschaftliche AbhĂ€ngigkeit von der Neuen Welt. Einfacher gesagt: Ohne Amerika kann Europa sehr wenig â selbst in Angelegenheiten, die direkt europĂ€ische Interessen betreffen.
All das ereignete sich nicht erst jetzt und nicht plötzlich. Die Phase, deren Kulmination wir heute sehen, begann noch unter Trumps VorgĂ€nger Joe Biden. Gerade er bĂŒrdete Europa faktisch die Hauptlast des Konflikts mit Russland auf â weniger die direkte finanzielle, als vielmehr die politische und makroökonomische. Auch wenn all das von eindringlichen Beteuerungen beispielloser transatlantischer SolidaritĂ€t begleitet wurde, fand in Wirklichkeit eine Ăbertragung der wirtschaftlichen Profite auf die USA und der Ausgaben an die Alte Welt statt.
Unter Trump verlor dieser Prozess seinen bisherigen latenten Charakter, und wurde offen und sogar demonstrativ. Sicher spielen dabei die Eigenarten des gegenwĂ€rtigen Herrn des WeiĂen Hauses eine Rolle, doch das gilt eher fĂŒr Ă€uĂere Erscheinungen, als fĂŒr den Kern der Sache. Trump zeigt ohne Scheu, dass ihn Europa ausschlieĂlich als ein Instrument zur Lösung bestimmter Probleme interessiert, und zwar vor allem als ein Finanzinstrument, das die Vereinigten Staaten entlastet. AuĂerdem verfĂŒgt Europa nach Trumps Ansicht noch ĂŒber einige weitere nĂŒtzliche Funktionen. Wahrscheinlich wird es mit der technischen UnterstĂŒtzung der Ukraine beauftragt, die nach der Regulierung des Konflikts notwendig sein wird. Doch Europa wird nicht als ein Partner erachtet, dessen Position im Fall ihrer Abweichung von derjenigen der USA zu berĂŒcksichtigen sei. Der Verlauf von Verhandlungen zum Handelsabkommen vor einigen Wochen und die getroffene Vereinbarung wurden zum Beleg dafĂŒr.
Europa wĂ€hlte die Taktik der hemmungslosen Schmeichelei und versucht, in deren Flut sorgfĂ€ltig eigene WidersprĂŒche und VorschlĂ€ge hineinzustreuen. Die Wirksamkeit einer solchen Herangehensweise erscheint fraglich. Trump nimmt Schmeichelei gerne entgegen, weil er die Lobpreisungen fĂŒr eine Feststellung seiner angeblich offensichtlichen StĂ€rken hĂ€lt. Dabei handelt er natĂŒrlich nach eigenem Ermessen: Wenn ihr mich schon so bewundert, mache ich alles richtig, macht also mit! Und verehrt mich bitte weiter.
Man könnte einwenden, dass Europa hier in der gleichen Lage ist, wie alle anderen Verhandlungspartner der USA, doch das ist nicht so. Unter den US-VerbĂŒndeten bezog Kanada unter dem neuen MinisterprĂ€sidenten eine recht unnachgiebige Position, und Trump fuhr seine Pöbeleien herunter. AuĂerhalb der atlantischen Gemeinschaft ist die Lage schon ganz anders. Trumps Druck gegen groĂe nichtwestliche LĂ€nder â China, Indien, Brasilien, SĂŒdafrika â, der aus unterschiedlichen GrĂŒnden, aber mit Ă€hnlichen Mitteln erfolgte, zwang sie nicht zum Gehorsam. Niemand will einen Konflikt provozieren, doch ebenso wenig lassen sich die Regierungen dieser LĂ€nder offen erpressen. Also ist Europa der unbestrittene Meister in der Bereitschaft, sich beim "groĂen Bruder" einzuschmeicheln.
Die EuropĂ€er mögen sich selbst einreden, dass das Problem konkret in Trumps Persönlichkeit liegt. Angeblich wĂŒrden sich die Dinge bessern, wenn sich der Herr des WeiĂen Hauses Ă€ndert. Sicher werden wir nicht so schnell wieder einen so schillernden US-PrĂ€sidenten wie Trump sehen, doch die EnttĂ€uschung der EuropĂ€er wird umso bitterer ausfallen, wenn sie erleben, dass neue Staatschefs der USA, sogar Demokraten, zwar den Stil, aber nicht den Kern des Verhaltens Ă€ndern werden. WĂ€hrend eines Vierteljahrhunderts, seit der PrĂ€sidentschaft von George Bush, blendete Europa Washingtons strategischen Kurs, sich zunehmend von atlantischen VerbĂŒndeten zugunsten anderer Ziele abzuwenden, sorgfĂ€ltig aus. Indessen war dieser Kurs â sehr konsequent â unabhĂ€ngig davon, wer im WeiĂen Haus herrschte. Auch nach Trump wird sich dieser Prozess fortsetzen. Und wenn man die auĂerordentliche Bereitschaft der gegenwĂ€rtigen EU-FĂŒhrer zur Selbsterniedrigung betrachtet, werden die kommenden US-PrĂ€sidenten von ihnen das Gleiche erwarten.
Eine andere wichtige Frage ist, wie Moskau danach die Beziehungen zu einem solchen Europa aufbauen soll, wenn diese ĂŒberhaupt irgendwann aufgebaut werden. Immerhin waren russisch-europĂ€ische Beziehungen gerade in jenen Zeiten besonders produktiv, in denen die Alte Welt ihre eigenen Interessen bewusst wahrnahm und verfolgte und in der Lage war, sie zumindest teilweise vor Ă€uĂeren EinflĂŒssen, darunter auch dem Druck der USA, zu schĂŒtzen. So war es Anfang der 1980er Jahre, als der sowjetisch-amerikanische Dialog zwar extrem abkĂŒhlte, die westeuropĂ€ischen VerbĂŒndeten der USA aber Reagan dazu brachten, die Umsetzung von groĂen europĂ€ischen Energieprojekten gemeinsam mit der Sowjetunion nicht zu behindern â weil sie fĂŒr Europa selbst notwendig und vorteilhaft waren. Inzwischen besteht das Problem darin, dass sich Europa ausschlieĂlich im US-amerikanischen Kielwasser bewegt. Europa ist nicht in der Lage, fĂŒr sich selbst zu formulieren, worin sein Vorteil besteht, und folgt daher entweder bewusst oder unbewusst den USA. Dabei gehen die USA ausschlieĂlich von eigenen Interessen aus und betrachten Europa teils als Konkurrenten, teils als Ressource.
Es ist unklar, worin fĂŒr Russland der Sinn bestĂŒnde, sich mit einem solchen Europa auszutauschen. Doch in jedem Fall ist das eine hypothetische Frage und betrifft eine ferne Zukunft. GegenwĂ€rtig kann dieses Problem zu einer schweren gesellschaftlichen und politischen Neurose in der Alten Welt fĂŒhren. Und wie die Geschichte zeigt, kann dies sowohl fĂŒr Europa, als auch fĂŒr seine Nachbarn gefĂ€hrlich werden.
Ăbersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen in der Zeitschrift Profile am 19. August.
Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs, Vorsitzender des PrĂ€sidiums des Rates fĂŒr AuĂen- und Verteidigungspolitik und Forschungsdirektor des Internationalen Diskussionsklubs Waldai.
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