Harakiri Europas? – Die Energiestrategie Moskaus bis 2050
Von Elem Chintsky
Es kann nicht als große Überraschung verbucht werden, was die russische Führung jüngst in ihrer Energieplanung für das gesamte nächste Vierteljahrhundert vorgestellt hat. Potenziell sind hier keine freien Termine für die EU vorgesehen – für Brüssel eher ein selbstverschuldeter Umstand. Stattdessen setzt Russland auf Nachhaltigkeit, eigene Energiesicherheit bis in die entlegensten Peripherien, Umweltfreundlichkeit und einen weiter wachsenden Export an gleichberechtigte Partner, mithilfe der Förderung und Ausweitung des eigenen Industriepotenzials und Wohlstands.
In den ethisch sowie bautechnisch renovierungsbedürftigen Machtsalons der EU-Eliten wird folglich eine neue Qualität der Dringlichkeit laut werden müssen.
Dies bezogen auf die hart eingesessenen altruistischen Projekte, Russland der liberalen Demokratie zuzuführen, "Russland zu befreien", zu balkanisieren und in einen westlich kontrollierten Flickenteppich zu verwandeln, dem man die Energieressourcen und Bodenschätze praktisch kostenlos rauben kann, während man die schiere Landmenge nach Belieben verwaltet. Die EU-Diplomatiechefin Kaja Kallas (zum Zeitpunkt der Wunschäußerung noch Premierministerin von Estland) schlug vor einem Jahr vor, "Russland zu zerteilen, nachdem man der Ukraine zum militärischen Sieg verholfen habe." Der Ex-Präsident Polens (1990–95), Lech Wałęsa, setzte sich für etwas Ähnliches ein, als er meinte, Russlands Bevölkerung müsse von 144 Millionen auf 50 Millionen Menschen reduziert werden, da jede der 60 Nationalitäten im Land ihr eigenes Land bräuchten – sicherlich mit Regierungen, die vom Westen besessen und kontrolliert sind, während man sie als "frei und unabhängig" hinstellt. Es gibt also Sollbruchstellen im westlichen Narrativ, durch die die wahren Absichten des Westens gegenüber Russland durchaus erkennbar werden.
Zwar tauchen immer wieder flüsternde Stimmen der Vernunft inmitten des Sirenenchors der NATO-Kriegspropaganda auf, aber die heutigen Parallelen zum Vorabend des Ersten und Zweiten Weltkrieges sind schwer von der Hand zu weisen. Die Kollegen von Myśl Polska nennen drei verheerende Fehler (jeder von ihnen verstärkt durch Trumps Zollpolitik, die der EU ebenfalls milliardenschwere Verluste bescheren wird), die zur jetzigen Krise des Alten Kontinents geführt haben: Destruktive Politik während der Pandemie, ein destruktiver "Green Deal" grüner Klimareligionspolitik sowie antirussische Sanktionen, die der EU billige Energieressourcen vorenthalten. Ersteres ist Geschichte, aus der man nur lernen könnte – keine retroaktive Wiedergutmachung möglich. Zweiteres könnte auf legislativem Weg mit einem Federstrich an einem Werktag ausgemerzt werden. Doch der dritte Aspekt ist die mächtigste Hürde, die letztendlich über Krieg und Frieden entscheiden wird. In den letzten beiden Punkten bräuchte es einen revitalisierten, nahezu revolutionären politischen Willen im Herzen Europas – zumindest bei den größten Spielern, wie der Achse Berlin-Paris.
"Europa muss unbedingt in den gemeinsamen Raum der eurasischen Zusammenarbeit 'von Lissabon bis Wladiwostok' einbezogen werden, von dem Charles de Gaulle sprach", so die unabhängige polnische Wochenzeitung. Leichter gesagt als getan, da dieser Imperativ zur politischen Umkehr noch nicht massentauglich in die NATO-betreute öffentliche Meinung eingeflossen ist.
"Polen könnte also eine historische Rolle für unseren gesamten Kontinent spielen. Es könnte, wenn sich jemand in Warschau dazu entschließen würde, das zerbrochene Fundament der falschen Außenpolitik, die wir seit 1989 betreiben, beseitigen: den blinden Antirussismus [Russenfeindlichkeit]", erklärt Myśl Polska.
Die Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen (fantastischer- aber nicht unmöglicherweise von Warschau angeführt), die irgendwann auch die diplomatischen Erschütterungen zwischen dem europäischen Westen und Russland schrittweise zu heilen vermöchte, hat aber ein leicht zu unterschätzendes Kleingedrucktes: "Vorausgesetzt natürlich, dass Moskau noch an einer solchen Erneuerung der Zusammenarbeit interessiert ist", resümiert Myśl Polska abschließend.
Jedenfalls definiert die Energiestrategie Russlands langfristige Leitlinien für den Zeitraum bis 2050, die zumindest darauf anspielen, dass im Notfall auch das Wegbleiben einer symbiotischen Wirtschaftsbeziehung zur EU in Kauf genommen wird. Dazu gehört die Entwicklung des neuen staatlichen Programms namens "Brennstoff- und Energiekomplex", das im Kontext globaler Herausforderungen wie der Energiewende, der Einführung digitaler Technologien, des allgemeinen technologischen Wandels und des steigenden Energieverbrauchs umgesetzt wird.
Russlands neu ausdiskutierte Energiestrategie sieht zwei Hauptprioritäten vor. Zum einen geht es um die noch effizientere Versorgung des heimischen Marktes mit Energieressourcen. Die Aufgabe des neuen "Brennstoff- und Energiekomplexes" besteht darin, eine stabile Versorgung zu gewährleisten, die Energiequellen zu diversifizieren, die weitere "Gasifizierung" der Regionen sicherzustellen und die Infrastruktur im Fernen Osten und in der Arktis zu entwickeln.
Zum anderen wird die Realisierung des Exportpotenzials hervorgehoben – also alle politisch willigen Außenmärkte. In dieser Hinsicht haben die Russen es in Rekordzeit geschafft, dass andere Absatzmärkte das Energiehandelsdefizit mit Europa kompensieren – allen voran Indien und China. Wobei 50 Prozent des weltweit gelieferten russischen LNG weiterhin von der EU erstanden werden, was sie in dieser Hinsicht sogar weiterhin zum widerwilligen Handelspartner Nummer eins macht. China besetzt lediglich den zweiten Platz – mit 21 Prozent. Gerade mit Blick auf diesen Trend arbeitet Trump an einer Reform, die Europa dazu zwingen soll, US-amerikanisches statt russisches LNG zu einem viel höheren – finanziellen sowie klimareligiösen – Preis, zu kaufen.
"Die Energiestrategie verknüpft die Prozesse, die in der Wirtschaft insgesamt ablaufen. Sie koordiniert die Einführung neuer Kapazitäten in den Bereichen Gewinnung, Verarbeitung und Erzeugung mit den Bedürfnissen der Menschen und Unternehmen", so die Schlussfolgerung der russischen Regierung.
Nicht nur aus früheren Kommuniqués des Kremls geht hervor, dass die eigene Energiesicherheit die Grundlage für die wichtigsten außenpolitischen Ziele Russlands darstellt. Eben diese Energiesicherheit ist nicht nur der hypothetische Schlüssel, sondern gilt auch als langfristig vollkommen gesicherter Fakt. Europa hingegen boykottiert die sich anbahnende Erfolgsgeschichte Russlands innerhalb des neuen eurasischen Paradigmas und verbleibt in der Geiselhaft eigener kognitiver Dissonanz bezüglich der Feststellung, dass es sich an einem tragischen Wendepunkt seines trotzigen Werdegangs befindet – einem Punkt namens steile Klippe.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit "RT DE" besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
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