Denkbar schlechtester Start für Kanzler Merz – Wer beherbergt die Schlangen im Gras?
Von Tarik Cyril Amar
Es scheint schon lange her zu sein. Aber aus politischer Perspektive war es erst gestern, als am 6. November des vergangenen Jahres die letzte, zutiefst unbeliebte deutsche Regierung zusammenbrach. Basierend auf einer zerrütteten Koalition und unter der Führung des glücklosen Olaf Scholz war sie fast vom Anfang bis zum bitteren Ende ein Flop. Was das Kabinett Scholz schließlich zum Einsturz brachte, war die Weigerung des Finanzministers, die – damals – strengen deutschen Beschränkungen für die Staatsverschuldung auszuhöhlen und der Ukraine noch mehr Geld zuzuschanzen.
Genau ein halbes Jahr nach diesem Fiasko produzierte die nächste und aktuelle deutsche Regierung gleich ein weiteres Fiasko und zwar noch bevor sie richtig begonnen hatte: Am 6. Mai scheiterte der designierte Regierungschef Friedrich Merz daran, sich vom Parlament zum Kanzler wählen zu lassen. Dies mag zwar als Formsache erscheinen, denn Merz gelang es nach einem komplizierten und demütigenden Manöver in einem zweiten Anlauf doch noch, genügend Stimmen zu erhalten.
Aber seien Sie versichert, in Deutschland nimmt das niemand als kleine Panne wahr. Anders als bei einem Koalitionsbruch handelt es sich hier um ein noch nie da gewesenes Versagen: Kein deutscher Bundeskanzler nach dem Zweiten Weltkrieg ist jemals im ersten Wahlgang gescheitert. Deshalb sprachen einige Parlamentarier am Tag des Desasters sogar von einer grundlegenden "Staatskrise". Kein Wunder, denn Kanzlerkandidaten bitten das Parlament nur dann um diese Abstimmung, wenn sie eine Mehrheit der Abgeordneten sicher auf ihrer Seite wähnen. Das glaubte auch Merz. Und genau deshalb war seine erste Schlappe so viel schlimmer als nur eine traurige historische Premiere: Die einzige Möglichkeit zum Scheitern war eine stille, aber bewusste Meuterei von unten gepaart mit arroganter Nachlässigkeit seinerseits.
Seine Koalition setzt sich aus seinen eigenen konservativen Abgeordneten und den Sozialdemokraten (SPD) zusammen. Hätten ihn in der ersten Runde alle Abgeordneten dieser beiden Parteien unterstützt, wäre eine zweite Runde nicht nötig gewesen. Offensichtlich waren es also Abgeordnete seiner eigenen Partei oder der Koalitionspartner, die sich weigerten. Da die Abstimmung anonym war, werden wir nie genau wissen, wer gegen ihn stimmte. Aber wir wissen, dass es mindestens 18 Rebellen waren. Ein großer konservativer Kommentator hatte recht: Dieser Schlag unter die Gürtellinie aus Merz' eigenen Reihen wird noch lange schmerzen.
Was für ein denkbar schlechter Start für eine Kanzlerschaft! Und das nicht nur, weil sich die "Partner" – ja, das sind Anführungszeichen –, die jetzt in Berlin Macht und Posten verteilen, von Anfang an immer fragen müssen, wer von ihnen – SPD oder CDU (oder gar beide)? – die Schlangen im Gras beherbergt. Und wann könnten sie wieder zuschlagen? Also willkommen in der neuen Koalition: Genauso hinterhältig wie die letzte, aber deutlich schneller.
Zudem stellt sich die noch viel grundlegendere Frage: Wenn Merz seine Truppen nicht einmal für eine Bestätigung als Regierungschef zusammenhalten kann, wie will er dann Haushaltspläne und Gesetze durchbringen? Dabei ist die Lage in dem Fall noch viel schlimmer. Schließlich hatte Merz überhaupt nur deshalb eine Chance auf das hohe Amt, weil Deutschland so umfassend im Chaos steckt: Demografie, Wirtschaft, Infrastruktur, Parteiensystem, Außenpolitik, Technologie und nicht zuletzt die öffentliche Stimmung. Nichts, wirklich nichts, ist in Ordnung.
Vor diesem düsteren Hintergrund stellte ein bedeutender deutscher Wirtschaftswissenschaftler, der dem regierungseigenen Sachverständigenrat angehört, bereits die unvermeidliche Frage: Wie kann diese neue Regierungskoalition das zentrale Versprechen von Merz erfüllen, die nationale Misere endlich anzugehen, wenn sie so offensichtlich keine Geschlossenheit besitzt? Obendrein fehlt es ihr auch an Disziplin und Weitsicht.
Denn es gehört schon eine erstaunliche Schlampigkeit dazu, eine Kanzlerwahl so schlecht vorzubereiten. Ein anderer Wirtschaftswissenschaftler stellte fest, dass das Debakel auch ein "verheerendes Signal" an den Rest der Welt sendet. In der Tat. Und viel Glück für Merz, wenn er versucht, Trump für die Einmischung seines Teams in die deutsche Politik zurechtzuweisen: Ob Trump es nun explizit sagen wird oder nicht, sicher ist, dass er Merz bereits als "Verlierer" eingestuft hat.
Abstimmung mit altem Parlament: Kehrtwende gegen Geist und Regeln des Grundgesetzes
Damit hat der amerikanische Oberboss recht. Nicht nur wegen des peinlichen Mangels an Professionalität, der bei dieser entscheidenden Abstimmung zutage trat. Die Merz'sche CDU und ihre SPD-Koalitionspartner unter Lars Klingbeil haben sich ihre Quittung redlich verdient. Zwischen den letzten Wahlen und dem Zusammenschustern ihrer Koalition haben sie ein krasses Manöver durchgeführt: Sie nutzten das alte Parlament, das de facto bereits von den deutschen Bürgern abgewählt worden war, für die vielleicht größte Kehrtwende in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Das war eindeutig gegen den Geist, wenn nicht gar gegen die Bestimmungen des Grundgesetzes.
Erinnern Sie sich noch an die strengen Grenzen für die Staatsverschuldung, an denen die vorangegangene Koalition gescheitert ist? Merz ist mit dem Versprechen in den Wahlkampf gezogen, wonach er diese sogenannte "Schuldenbremse" nicht aufgeben werde. Als eingefleischter Konservativer war er in einer hervorragenden Position, die Wähler von dieser Behauptung zu überzeugen. Und dennoch bestand seine erste Handlung – noch vor seinem Amtsantritt – darin, dieses Versprechen zu brechen.
Merz agierte dabei nicht auf kleine, bescheidene Weise. So riss er auch nicht nur ein paar Mauern ein, sondern machte das gesamte Bauwerk dem Erdboden gleich. Nachdem er als finanzpolitischer Falke kandidiert und (knapp) gewonnen hatte, vollzog er schnell eine kreischende Kehrtwende, um – in den Worten von CNN – "die Kreditaufnahme massiv auszuweiten und die Militärausgaben zu erhöhen". In der Größenordnung von rund einer Billion im nächsten Jahrzehnt. Viele Wähler und Mitglieder seiner eigenen Partei waren nicht nur verblüfft, sondern entsetzt. Wir können es nicht mit Sicherheit wissen, aber ich und viele weitere Deutsche vermuten wahrscheinlich zu Recht, dass dieser massive Vertrauensbruch zumindest einige der Rebellen bei der Kanzlerwahl motivierte.
Sicher ist, dass Merz schon vor seinem knappen Scheitern als Bundeskanzler in der Beliebtheitsskala abgestürzt ist. Von Anfang an unbeliebt, hat er nun einen Tiefpunkt erreicht: Am Vorabend der Bundestagswahl waren 56 Prozent der Deutschen gegen Merz als Kanzler, nur 38 Prozent begrüßten diese Aussicht. Dabei ist Merz nicht der Einzige, der angeschlagen aus dieser Affäre hervorgegangen ist: Aus komplizierten verfahrenstechnischen Gründen war Merz für seine zweite Chance auf die Kooperation der Partei Die Linke unter ihrem Shootingstar Heidi Reichinnek angewiesen.
FĂĽr Die Linke war diese Hilfe wahrscheinlich ein sehr schlechter Schachzug. Reichinnek ist fĂĽr Deutschland das, was Alexandria Ocasio-Cortez fĂĽr die USA ist: eine Social-Media-versierte Lifestyle-Linke mit ĂĽberheblicher Rhetorik (wer ist fĂĽr die Abschaffung des Kapitalismus, und zwar sofort und mit Tattoos, bitte?) und zutiefst taktischem Verhalten in der realen Welt. Indem sie dem unbeliebten Erzkapitalisten Merz half, hat sie es vielleicht sogar fĂĽr einige ihrer treuesten TikTok-Fans ĂĽbertrieben.
Unvereinbarkeit mit den Linken bei Abstimmungsdeal von CDU gebrochen
Aber es gibt nicht nur schlechte Nachrichten. Zumindest nicht für alle. Die AfD – unter dem Druck des deutschen Inlandsgeheimdienstes und der möglichen Androhung eines kompletten Verbots – wird wahrscheinlich profitieren. Sie mag vielleicht die große Gelegenheit verpasst haben, Merz in Verlegenheit zu bringen, indem sie tatsächlich für ihn stimmte. Aber es gibt noch einen anderen Effekt: Die Zusammenarbeit der ach so schrecklich radikalen Reichinnek und ihrer Partei hat bereits einige deutsche Beobachter veranlasst, eine einfache, plausible Frage zu stellen.
Wenn sowohl Die Linke als auch die AfD für die CDU früher als "Brandmauer" galten – und Merz sich dennoch ohne Probleme auf Die Linke verlassen konnte, um ins Amt zu kommen (nicht weniger!), dann ist das ganze "Brandmauer"-Getue offensichtlich nicht ganz zutreffend. Dementsprechend könnte auch der Schutzwall gegen die AfD eines Tages bröckeln. Aus Gründen der Konsequenz und Fairness sollte er das sogar, ob man die AfD nun mag oder nicht.
Wie kann man nur auf so merkwürdige Weise zum neuen Staatsoberhaupt des politischen Establishments in Deutschland werden? Er stolperte durch die Eingangspforte, schwer angeschlagen und gedemütigt wie kein Kanzler zuvor. Gleichzeitig stärkte er de facto erneut die größte und bedrohlichste rebellische Partei des Landes. Merz' Vorgänger Scholz begann mit viel unverdientem Vorschusslorbeer und endete abgrundtief. Merz hat es geschafft, bereits abgrundtief zu beginnen.
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