Asiens Wirtschaftskraft beklagenswert? Der Westen sollte sich besser daran gewöhnen
Von Dagmar Henn
Es gibt eine Floskel, die in den letzten Jahren immer wieder auftaucht, wenn von China und seiner Exportproduktion die Rede ist: die "chinesische Ăberproduktion". Es ist schon besonders charmant, wenn deutsche Politiker diese Formulierung verwenden, im Land des "Made in Germany". Wenn China Waren exportiert, dann ist das, so impliziert diese Formulierung, eigentlich unzulĂ€ssig. Es sollte sich darauf beschrĂ€nken, die BedĂŒrfnisse der eigenen Bevölkerung zu decken, und die ExportmĂ€rkte der Welt jenen ĂŒberlassen, denen sie zustehen. Wie den Deutschen, beispielsweise, die immerhin einmal "Exportweltmeister" waren.
Wie davor die Briten. Und dazwischen die US-Amerikaner. Also im Kern immer die Insassen jenes kleinen westasiatischen Wurmfortsatzes namens Europa, samt seinem transatlantischen Klon. Dabei ist dieser Zustand, solange er existiert, ĂŒberhaupt nur auf Gewalt gestĂŒtzt vorstellbar. SchlieĂlich sind China und Indien die bevölkerungsreichsten LĂ€nder der Erde, also sollte ihr Anteil an der Weltproduktion und am Welthandel dem entsprechen, ginge es gerecht zu.
So war das ĂŒbrigens noch im 18. Jahrhundert. Bis dann die europĂ€ische Kolonialpolitik zuschlug und beide LĂ€nder erst einmal in ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten zurĂŒckwarf. Nur, dass man heute im Westen das Produkt dieser Entwicklung fĂŒr eine Art NormalitĂ€t hĂ€lt, und heute, da sich die VerhĂ€ltnisse wieder Ă€ndern, darin nicht nur eine Bedrohung sieht, sondern geradezu eine AnmaĂung.
Dieser Unterton beherrscht nicht nur die aktuelle Reaktion der Vereinigten Staaten auf China, er dominiert auch in der deutschen China-Strategie von 2023, die unter anderem beklagt, dass China "die weltgröĂten SeestreitkrĂ€fte nach Anzahl der Schiffe und U-Boote" besitze.
Nun, 1525 wurde in China eine der folgenreichsten Entscheidungen der Weltgeschichte getroffen, als die letzten Hochseeschiffe verbrannt wurden. Davor hatten chinesische Seeleute mit Schiffen, die bis zu 120 Meter lang waren, die Welt erkundet. Und schon Jahrhunderte davor wurde im Römischen Kaiserreich chinesische Seide in Gold aufgewogen. Es traf sich ungĂŒnstig, dass sich genau zu der Zeit, als in China die Hochseeschifffahrt eingestellt wurde, europĂ€ische Seefahrer in ihren Nussschalen (das Schiff des Kolumbus war 19 Meter lang) aufmachten, ihrerseits die Weltmeere zu entdecken. Mit Kompass ĂŒbrigens, einer Erfindung frĂŒherer chinesischer Seefahrer.
Wenn heute geklagt wird, die "liberalen Demokratien" seien bedroht, dann ist das im Kern nur eine sĂ€kulare Version des frĂŒheren Missionierungsdrangs, bei dem immer die Vorstellung mitschwang, nur in Europa herrsche Zivilisation (auĂer, die EuropĂ€er bekriegten sich gerade gegenseitig, dann konnte sie noch weiter schrumpfen), und der Rest der Welt sei nur von unterschiedlichen Formen von Barbaren bewohnt. Historisch gesehen ist das völliger Unfug. Die ersten Teile der Chinesischen Mauer wurden mehr als 500 Jahre vor unserer Zeit errichtet, die Indus-Kultur entlang des gleichnamigen Flusses bestand zeitgleich mit dem Alten Reich in Ăgypten, und auch das Reich der Hethiter in Anatolien war schon vergangen, als die erste Zeile der Ilias gedichtet wurde. Ja, auch der Jemen besaĂ schon reiche StĂ€dte, als Rom noch ein von SĂŒmpfen umgebenes etruskisches Bauerndorf war. Selbst in Mittelamerika errichteten die Olmeken bereits StĂ€dte.
StĂ€dtische Zivilisationen entwickelten sich immer um ein bestimmtes Hauptnahrungsmittel, auf Grundlage spezifischer Pflanzen. Was das angeht, ist der ganze Westen nur ein AnhĂ€ngsel des Nahen Ostens, wo die frĂŒhen Getreide Dinkel, Emmer und Einkorn kultiviert wurden. AuĂerdem gibt es noch zwei ganz unterschiedliche Arten Reis â eine in Indien, eine in China â, die Jams in Westafrika, Hirse in China und Ăthiopien, Mais und Bohnen in Mittelamerika... die jeweiligen Regionen sind heute weitgehend bekannt, aber keine davon liegt in Europa. Auch Bier wurde zuerst in Vorderasien gebraut.
Es sind die letzten Jahrhunderte europĂ€ischer EroberungszĂŒge, die das Bild geschaffen haben, Zivilisation und Europa seien irgendwie identisch. Aber wĂ€hrend der arrogante Westen sich mĂŒht, den Aufstieg der BRICS zu verhindern, kehrt dort nur eine Reihe alter, groĂer Zivilisationen auf ihren angestammten Platz zurĂŒck: China, Indien, Iran, Ăgypten...
Was wĂ€re denn so schlimm an einer Welt, in der der Bewohner jedes Landes einen gleichen Anspruch auf den globalen Reichtum erheben könnte? China hat die gröĂte Flotte der Welt? Das ist auf jeden Fall ein normalerer Zustand, als wenn das winzige England sie hĂ€tte, und auch die Bevölkerung der USA betrĂ€gt nur ein FĂŒnftel der chinesischen. Indien und China waren ĂŒber Jahrhunderte die gröĂten Textilproduzenten â nur durch die Industrielle Revolution gerieten sie ins Hintertreffen. Wenn sich die Gewichte heute wieder verschieben, ist das nur eine RĂŒckkehr zu einem natĂŒrlicheren Zustand.
Dass das kleine Deutschland mit seinen gerade mal 80 Millionen Einwohnern ĂŒberhaupt jemals den "Exportweltmeister" spielen konnte, ist, rein statistisch gesehen, höchst unwahrscheinlich und ein ausgesprochener AusreiĂer. Dass sich der Westen nach wie vor als Krone der Schöpfung begreift, ist schnell als absurd durchschaubar, wenn man sich die Geschichte des Restplaneten auch nur oberflĂ€chlich betrachtet.
Europa und Nordamerika zusammen haben mit 17 Prozent der Weltbevölkerung einen geringeren Anteil an der Menschheit als Afrika mit 17,5 Prozent â so viel, wie auch Indien und China jeweils beitragen. 2023 lag der (kaufkraftbereinigte) Anteil Chinas am globalen Bruttoinlandsprodukt bei 18,74 Prozent, also nur leicht ĂŒber dem Anteil an der Weltbevölkerung. Der Anteil Europas und Nordamerikas zusammen bei 29 Prozent, also fast dem Doppelten, was nach Bevölkerungsanteil zustĂŒnde, wĂ€hrend Indien mit 7,9 Prozent noch bei weniger als der HĂ€lfte des Bevölkerungsanteils liegt und der Anteil Afrikas mit 5,25 Prozent nicht einmal einem Drittel entspricht.
Aber in Europa ist es weder ĂŒblich, sich mit diesen ZahlenverhĂ€ltnissen zu beschĂ€ftigen, noch sind Kenntnisse auĂereuropĂ€ischer Geschichte der Normalfall. Die ist eher ein Thema, wenn man mal eine exotische Doku fĂŒr das Abendprogramm braucht. Ganz davon zu schweigen, zu erzĂ€hlen, wie es denn zu dieser Schieflage gekommen ist, die belegbar dazu fĂŒhrt, dass sich der natĂŒrliche Reichtum vieler LĂ€nder in Armut verwandelt. Wie â was erst vor kurzem Thema war â die Uranvorkommen in Niger, die fĂŒr einen Spottpreis an Frankreich gingen.
Von nichts kommt schlieĂlich nichts. Da gibt es unzĂ€hlige Methoden, wie die LĂ€nder, die einmal unterworfen wurden, danach an eigener Entwicklung gehindert wurden. Mit Abgaben, die die "Leistung" der Kolonialherren abgelten sollen, wie das Frankreich jahrzehntelang bei seinen ehemaligen Kolonien machte. Mit einer Infrastruktur, die nur den Handel hinaus, nach Europa, begĂŒnstigt, aber nicht den Handel von einem afrikanischen Land mit dem anderen (was sich Ă€hnlich auch lange in SĂŒdamerika fand). Jede Generation spuckte eine neue Idee aus, wie die Ungleichheit fortgefĂŒhrt werden könnte â die letzten davon heiĂen Klimaschutz und Karbonzoll.
Anteile am globalen BIP, Jahre 1500 bis 2008Screenshot
Wie man an der Grafik sehen kann, holt sich Asien ganz langsam seinen Anteil zurĂŒck, wobei China nur der sichtbarste Teil ist. NatĂŒrlich wird sich nicht ganz der Zustand des Jahres 1500 wiederherstellen, weil beide amerikanischen Kontinente und Australien noch keine wirkliche Rolle spielten. Aber eine Verlagerung des globalen wirtschaftlichen Schwerpunkts nach Asien bildet nur den Anteil ab, den es an der Menschheit besitzt.
Was viel leichter zu erkennen wĂ€re, hĂ€tte man in den letzten Jahrzehnten den Menschen im Westen nicht jedes GespĂŒr fĂŒr Ungleichheit ausgetrieben. Kaum war der Höhepunkt der einseitigen Verteilung ĂŒberschritten, wurde im Westen daran gearbeitet, der Bevölkerung eine zunehmende gesellschaftliche Ungleichheit als normal zu verkaufen, die inzwischen weltgeschichtliche RekordmaĂe angenommen hat. Nicht nur in Deutschland, mehr oder weniger in allen LĂ€ndern des Westens stagniert der Lebensstandard der breiten Massen seit einer ganzen Generation â nur der Anteil des obersten Promilles am gesamten geschaffenen Reichtum steigt stetig weiter.
Nun, trotz aller BemĂŒhungen des Westens ist die Angleichung dieser Unterschiede nicht mehr aufzuhalten, gleich, wie viele Milliarden in RĂŒstung gepumpt werden, um irgendwie die Ăberlegenheit zu retten. FĂŒr den weit ĂŒberwiegenden Teil der Menschheit ist diese Entwicklung die Befreiung von einer auferlegten Last, und vielleicht lernt dann auch der Westen wieder, andere Völker auf Augenhöhe und nicht von oben herab zu betrachten.
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